Gelsenkirchen. Gewalt ist Alltag für Gelsenkirchens Jugendliche. Hier berichten fünf von ihnen über die Raubzüge und Ausgrenzung: „Es wird immer schlimmer“.

  • Die Meldungen über jugendliche Raubzüge in Gelsenkirchen reißen nicht ab – was ist mit den Opfern? Hier berichten sie von ihren Erfahrungen.
  • „Man muss das wirklich erlebt haben, um zu begreifen, wie schlimm das ist“ – sagt Hendrik über seinen Überfall.
  • Neben Raub und Gewalt erleben die Jugendlichen auch psychische Gewalt durch Mobbing und Diskriminierung.

Immer wieder, immer öfter, mitunter mehrmals in der Woche berichtet die Gelsenkirchener Polizei von jugendlichen Räubern. Die Lage war schon Thema im Landtag, die Polizei hat eine eigene Ermittlungskommission, die EK König, eingerichtet und verzeichnet damit zunehmend Erfolge. Häufig geht es nur um die Täter, doch was ist mit den Opfern? Hier berichten fünf junge Menschen von ihrer (alltäglichen) Gewalt-Erfahrung, sie wurden teils ausgeraubt, immer aber bedroht – von Gleichaltrigen und sogar Jüngeren. Sie bleiben anonym.

Gewalt unter Jugendlichen: In Gelsenkirchen wird’s „immer schlimmer“

An einem frühen Abend irgendwann im November des vergangenen Jahres ist Hendrik gemeinsam mit einem Kumpel auf dem Weg nach Hause. Zwei junge Männer sprechen die beiden an: „Sie haben uns gefragt, ob wir ein Problem haben“, berichtet Hendrik. Sie fragten, wo die beiden wohnen, wie sie heißen. Und dann ging alles relativ schnell: Die beiden Räuber drängen Hendrik und seinen Freund auf einen kleinen Weg, dann öffnet einer von ihnen seine Jacke: „Ich konnte eine Machete zur Hälfte in der Tasche stecken sehen“, berichtet Hendrik.

„Ob ich Geld dabei habe, fragten sie mich“, erinnert sich der Oberstufenschüler. 15 Euro waren alles, was er an Bargeld hatte, die rückte er raus, bekam noch einen Schlag ins Gesicht. Sein Kollege gab fünf Euro. Mit geraubten 20 Euro ergriffen die Täter die Flucht, hätten noch gedroht, dass sie nicht die Polizei rufen sollten. „Der Überfall ging recht schnell“, ist Hendriks Empfinden. Doch das alles kam sehr unerwartet für die beiden, etwas „aus der Fassung seien sie gewesen“. „Im Nachhinein habe ich mich geärgert, wie man sowas überhaupt machen kann.“

Angst vor Übergriffen in Gelsenkirchen: „Ich hatte häufig ein mulmiges Gefühl“

Der Überfall, er wirkt nach, „man beschäftigt sich halt schon irgendwann damit“. „Ich hatte häufig ein mulmiges Gefühl, wenn ich rausgegangen bin oder eine größere Menschengruppe getroffen habe“, sagt Hendrik. Und anfangs hätte seine Mutter ihn aus Angst kaum aus dem Haus gehen lassen, sie war „sehr geschockt, die hat das natürlich mitgenommen“. Mittlerweile gehe es, das sagt Hendrik auch. Einem der Täter läuft er immer mal wieder über den Weg: „Den einen Typen sehe ich recht häufig.“ Doch dabei bleibt es: „Ich habe keinen festen Anhaltspunkt wie eine Adresse oder einen Namen, womit ich zur Polizei gehen könnte.“ Den oder die Täter zu überführen – für ihn ist das aussichtslos.

Im Gespräch mit der WAZ betont Hendrik: „Man muss das wirklich erlebt haben, um zu begreifen, wie schlimm das ist.“

Markus, im selben Alter wie Hendrik, war mit Freunden unterwegs. Er vergisst bis heute nicht, wie er sich in dem Moment des Überfalls gefühlt hat. „Was mich am meisten schockiert hat: dass es zum Teil Jüngere waren“, berichtet er. Und auch, dass es an einem normalen Nachmittag passierte, nicht etwa in der einsetzenden Dämmerung oder gar in Dunkelheit.

Alles fing ganz harmlos an, mit Small Talk. Schnell wurden auch Markus und seine Begleiter von einer Gruppe Jugendlicher bedroht und zur Herausgabe von Geld gezwungen. Zum Glück konnte einer seiner Freunde Schlimmeres verhindern. Er erkannte einen der Täter wieder, rief ihm entgegen: „Was soll das? Ich kenne deinen Vater!“ Das löste sofort die Spannung, „panisch“ seien die Täter demnach danach weggerannt.

Ein Leben im sozialen Brennpunkt – Grund für die Gewaltbereitschaft?

Das was passiert ist, hat Markus mitgenommen, sagt er. „Was haben die sich dabei gedacht?“ habe er sich immer wieder gefragt. Heute ist er überzeugt: „Potenziell jeder könnte mit einem Messer unterwegs sein.“ Er achtet nun viel mehr als früher auf bestimmte Kleidungsmuster, auf Auffälligkeiten und meint, dass die soziale Herkunft ausschlaggebend ist. Ein Leben im sozialen Brennpunkt, „das hat damit hauptsächlich zu tun.“ Warum? „Weil vielleicht die Grundaggression höher ist?“, stellt Markus als These auf. Oder weil die Jugendlichen in Kreisen aufwachsen, in denen Gewalt zum Alltag gehöre, egal ob zuhause oder in der Schule.

Ab von den tätlichen Angriffen, dem Abziehen, gibt es auch noch eine andere Form der Gewalt im Alltag junger Gelsenkirchener: Mobbing. Hannah geht in die fünfte Klasse, sie schildert mit leiser Stimme ihre Erfahrungen. Dass es häufig „dumme Sprüche“ gibt. Dass sie einmal von einem ihrer Mitschüler getreten wurde, dass sie so sehr angegangen wurde, bis sie keine Luft mehr bekommen habe. Hilfe von einer Lehrperson gab es nicht – die „Lehrerin hat das gar nicht so mitbekommen“, sagt Hannah. Und auch das: „Ich bin keine schwache Person, ich kann mich verteidigen.“

Seit sie an der weiterführenden Schule ist, habe das Mobbing zugenommen. „In der Grundschule waren die Sprüche nicht so hart.“

„Viele Menschen merken gar nicht, ob sie eine Person gerade verletzen“

Harte Sprüche kennt Can zur Genüge. Er hat ein besonderes Körpermerkmal, das immer wieder Grund für Beleidigungen ist. „Es gibt Menschen, die sind halt nett und Menschen, die sind böse“, sagt Can. Er habe, auch dank der Unterstützung seiner Familie, gelernt, Kränkungen und Verletzungen anderer Kinder und Jugendlicher auszuhalten. Can wünscht sich, dass das Thema Mobbing mehr Aufmerksamkeit erfährt, sieht es als „Riesen-Problem“. Und hat eine einfache Erklärung, warum es Menschen gibt, die mobben: „Damit sie sich besser fühlen, damit sie sehen, dass nicht nur sie eingeschränkt sind.“

Wieder ein anderer Fall: Simon ist trans, wie er selbst sagt. „Sehr, sehr viele Übergriffe“ habe er schon erlebt, verbale Angriffe („Da kommt die Schwuchtel wieder“), abfällige Blicke und Kommentare, Simon wurde aber auch angespuckt und mit Steinen beworfen. „Ich war schon immer eine ausgegrenzte Person, sodass ich schon immer damit umgehen musste“, antwortet Simon auf die Frage wie er das alles so wegsteckt.

Markus ist beim Thema Mobbing überzeugt, „das viele Menschen das gar nicht so merken, ob sie eine Person gerade verletzen.“ Und was ist ihr Eindruck, was denken die Jugendlichen über die Alltäglichkeit von Gewalt in ihrem Leben, ihrem Umfeld? „Es wird immer mehr und auf jeden Fall immer schlimmer“, sagt Hendrik. Die anderen nicken.