Gelsenkirchen. Obwohl er an kaum einer Sitzung des Stadtrates teilgenommen hat, kassierte ein Politiker fast 25.000 Euro. Wie der Gelsenkirchener das erklärt.
Sich lokalpolitisch zu engagieren, ist – wenn man es denn ernst meint – ohne Frage eine zeitintensive und in Gelsenkirchens facettenreichem Stadtrat oft auch eine nervenaufreibende Angelegenheit. Dass Lokalpolitiker dafür etwas entlohnt werden, ist eine Anerkennung für dieses Engagement, die die Gemeindeordnung des Landes vorsieht.
Aufhorchen lässt allerdings, wenn ein Mandatsträger Gelder kassiert, obwohl er fast nie da ist. So wie im Fall des Fraktionsvorsitzenden der „Wählerinitiative NRW“ (WIN). Dass dieser lange nicht im Stadtrat gesehen wurde, veranlasste SPD-Ratsherr Atilla Öner, die Stadtverwaltung zu fragen, wie es eigentlich um Bayram Coskun und das Geld, das ihm gezahlt wird, steht.
Die WIN fällt im Stadtrat vor allem in Person von Ali-Riza Akyol, dem Fraktionsgeschäftsführer, auf. Der umtriebige und polarisierende Lokalpolitiker leistet sich regelmäßig harte Auseinandersetzungen mit der Verwaltung – oft als Einzelkämpfer. Denn Akyols zwei Fraktionskollegen sieht man selten im Rat.
So viel Geld bekommen Lokalpolitiker in Gelsenkirchen
Jedes Ratsmitglied erhält 420 Euro im Monat und 25 Euro für jede Sitzung. Fraktionsvorsitzende wie Coskun bekommen je nach Größe ihrer Fraktion noch einmal deutlich mehr Geld. Bei den Chefs der vier großen Fraktionen im Gelsenkirchener Stadtrat (SPD, CDU, Grüne, AfD) sind es monatlich 1575 Euro oben drauf. Bayram Coskun, der der dreiköpfigen WIN-Fraktion vorsitzt, stehen zusätzlich zu den 420 Euro als Ratsmitglied immerhin noch 1050 Euro zu.
Coskun nahm nach Verwaltungsangaben zum letzten Mal am 20. Mai 2021 an einer Ratssitzung teil (Stand 9. Februar, Datum der Anfrage durch Atilla Öner). „In den bisherigen 20 Sitzungen des Rates war er bei 15 Sitzungen nicht anwesend“, so die Stadt. Sein Fehlen habe Bayram Coskun gegenüber der Verwaltung aber stets begründet. Anders als der zweite von drei WIN-Stadtverordneten, Ibrahim Aydinli, der zuletzt im März 2022 an einer Ratssitzung teilgenommen hat und bisher bei zehn von 20 Sitzungen nicht anwesend war. Aydinli erklärte dieser Redaktion, dass er aufgrund veränderter beruflicher Voraussetzungen nicht mehr regelmäßig an den Sitzungen des Stadtrates teilnehmen kann, aber zumindest an den Fraktionssitzungen jeden Montag teilnimmt.
So erklärt der Vorsitzende der Gelsenkirchener WIN-Fraktion sein Fehlen
Bayram Coskun, der von Juni 2021 bis Oktober 2022 immerhin 24.990 Euro an Aufwandsentschädigungen durch den Steuerzahler bekommen hat, erklärt im Gespräch mit der WAZ, dass er vier Monate lang für ein Auslandssemester seines Medizinstudiums in der Schweiz gewesen sei und anschließend aus gesundheitlichen Gründen lange nicht an Sitzungen politischer Gremien habe teilnehmen können. Überdies habe er in der Zwischenzeit sein Studium erfolgreich abgeschlossen und zeitgleich promoviert.
Dass der Eindruck entstanden sei, er kassiere die Aufwandsentschädigung, obwohl er lokalpolitisch gar nicht mehr aktiv sei, bedauert der junge Gelsenkirchener. Nach der Sommerpause will der 28-Jährige „wieder voll durchstarten“, behauptet er. Zuletzt hat er auch vor einigen Wochen wieder an einer Ratssitzung teilgenommen.
Coskun betont aber auch, dass sich sein lokalpolitisches Engagement nicht allein auf die Teilnahme an Gremiensitzungen beschränke, sondern sich dadurch zeige, dass er für Bürgerinnen und Bürger, die das Gespräch mit ihm suchen, ein offenes Ohr habe – auch in der Zeit, in der er nicht an Ratssitzungen teilgenommen habe. Die Anliegen der Menschen habe er dann fraktionsintern weitergegeben.
Und was die Aufwandsentschädigung anbelangt, die er in der Zwischenzeit weiter ausgezahlt bekam, betont Coskun, dass der größte Teil ohnehin an die WIN gehe, die damit ihre Partei- und Wahlkampfarbeit finanziere.
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Dennoch findet es Coskun auch „fair“, dass seit November 2022 die monatliche Aufwandsentschädigungspauschale für ihn durch die Stadt einbehalten werden. Wie die Stadtverwaltung erklärt, können Mandatsträger nicht darauf bestehen, dieses Geld zu bekommen, wenn sie länger als drei Monate ihr Mandat nicht ausgeführt haben, es sei denn, die Betroffenen haben die Nichtausübung ihrer Tätigkeit nicht selbst zu verschulden.
Die vielen Abwesenheiten zweier von drei Mitgliedern ist für die WIN aber auch gefährlich, wenn sie ihren Status als Fraktion im Stadtrat nicht verlieren will. Diese muss aus mindestens drei Stadtverordneten bestehen. Auf die Frage der SPD, ob eine Fraktion ihren Status behalten dürfe, wenn dauerhaft die notwendige Anzahl von Mitgliedern fehle, antwortete die Stadtverwaltung knapp, aber deutlich mit „Nein“.
FDP empört über WIN und Coskun
„Ich bin mehr als irritiert“, sagt Susanne Cichos, Fraktionsvorsitzende der FDP, zu den Erklärungen der WIN, warum ihre Mandatsträger bei den Ratssitzungen so oft fehlten. „Da kassiert Bayram Coscun knapp 25.000 Euro an Aufwandsentschädigungen, obwohl er zwischen 2020 und Februar 2023 von 20 Ratssitzungen nur an fünf teilgenommen hat“, so Cichos. Kritikwürdig sei dieses Verhalten für die FDP-Ratsfraktion, weil diese Zahlungen durch den Steuerzahler finanziert und von einer extrem verschuldeten Kommune aufgebracht werden müssen.
Es habe fast schon satirische Züge, dass eine Partei, deren Geschäftsführer Ali Riza Akyol sich im Rat „mit schöner Regelmäßigkeit als Saubermann der Nation verkauft, eine solche Vorlage liefert“, mein FDP-Ratsherr Ralf Robert Hundt. „Ein Mann, der die Verwaltung unter den Generalverdacht der Korruption stellt und und den angeblich laxen Umgang mit Steuergeldern kritisiert, der die Kolleg:innen der anderen Parteien regelmäßig beschimpft, duldet in den eigenen Reihen ein solch unglaubliches Vorgehen. Anspruch und Wirklichkeit klaffen hier sehr weit auseinander“, so Hundt.
Im Übrigen halte Cichos das Argument, dass Coskun ein offenes Ohr für die Bürger:innen habe, für absurd. „Ich könnte es ja verstehen, dass Herr Coskun als einfaches Ratsmitglied eine gewisse Zeitspanne fehlt“, sagt Cichos. Das komme in allen Parteien zuweilen vor. „Ich kann durchaus nachvollziehen, dass sich Lebensplanungen innerhalb einer Wahlperiode von fünf Jahren ändern können“, so Cichos. Die Chance, für ein Auslandssemester in die Schweiz zu gehen, hätte die FDP-Fraktionschefin nach eigener Aussage wahrscheinlich auch nicht abgelehnt. „Es gebietet aber der Anstand und die Moral, für die Zeit der Abwesenheit den Fraktionsvorsitz niederzulegen“, so Cichos.