Gelsenkirchen-Buer. Auf der Rungenberghalde im Gelsenkirchener Norden leben heute unzählige Tier- und Pflanzenarten – viele davon sind echte „Auswanderer“.
„Die Halden des Reviers, der Stadt Gelsenkirchen, sind die Rückzugsorte für die Pflanzen und Tiere, deren Lebensraum der Mensch zerstört hat oder einengt“, sagt Ralf Nickel. Er ist leidenschaftlicher Umweltpädagoge, weiß zu allem am Wegesrand etwas zu berichten und bricht beim Ruf eines Vogels in Begeisterung aus. Hier und heute ist er beim Besteigen der Halde Rungenberg in seinem Element.
Dass er auch passionierter Bergsteiger ist, hätte er ruhig vor dem Aufstieg sagen können – tut er aber erst auf dem Gipfel. Und so geht es steil bergauf, frei nach dem Motto: Auf ausgetretenen Pfaden wandeln kann doch jeder. Dabei erzählt er, dass er erst in der vergangenen Woche eine sensationelle Sichtung gemacht hat. „Da habe ich eine Kreuzkröte gesehen. Die steht auf der Roten Liste in NRW. Das war aber auf einer anderen Halde.“ Generell gelte: Wer eine besondere Tier- und Pflanzenwelt erleben möchte, wird auf der Halde Rungenberg fündig. Auch weil es hier auf kleiner Fläche ganz unterschiedliche Lebensräume gibt.
In Gelsenkirchen wachsen wilde Orchideen, Enzian und Schlüsselblumen
„Die Hänge der Halde sind, je nach Lage, sonnenbeschienen und trocken.“ Da könne es sein, dass man gar auf eine wilde Orchideenart, den breitblättrigen Sumpfwurz, stoße oder auf das Enziangewächs Tausendgüldenkraut. Jetzt eben sieht Ralf Nickel auf einer Wiese eine frei wachsende Schlüsselblume. Und nur ein paar Meter weiter das Labkraut. „Das ist ganz typisch für Halden und ist verwandt mit dem Waldmeister.“ Das Besondere: „Damit hat man früher Käse hergestellt – als Lab-Ersatz.“
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Gleich daneben steht eine verwilderte Geranie, der Storchschnabel, vermutlich aus irgendeinem Garten eingewandert. „Es gibt hier bis zu 15 verschiedene Arten von Geranien.“ Mit noch mehr Zahlen kann der Natur-Kenner beeindrucken: „Bei einem zweistündigen Spaziergang über eine Halde sehe ich 70 bis 80 verschiedene Pflanzenarten.“
Auf der Halde holt sich die Natur die Räume zurück
Der Duft von Frühling liegt in der Luft. Die Blüten verströmen süßlichen Duft. Es zwitschert ein Vogel. Auch Ralf Nickel tiriliert: „Haben sie das gehört? Das ist eine Grasmücke. Die Vögel sind keine Seltenheit, leben aber besonders gern auf Halden, weil die Natur hier recht unberührt ist.“ Davon profitieren auch die vielen Wildkräuter. Denn passionierte Gärtner, die mit jedem Kraut kurzen Prozess machen, gibt es hier einfach nicht. „Hier auf der Halde holt sich die Natur die Räume zurück, die der Mensch einst verändert hat.“
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So ein Profiteur der Wildnis ist der „Stinkende Storchschnabel“. Den kennen viele Gärtner gut. Denn wenn man ihn entfernt, rächt er sich mit einem grausamen Gestank. „Das ist aber ein Heilkraut. Eine Salbe daraus bereitet hilft gegen Hautirritationen.“
Leicht-alpine Bedingungen auf der Halde Rungenberg
Beim nächsten steilen Aufstieg querfeldein fällt auf, dass man sich zwischen unzähligen Kirschbäumen hindurch schlängelt. Dazwischen steht eine einzige junge Buche. „Die ist vielleicht so 15 Jahre alt.“ Ob das Bäumchen mal so groß wird, wie eine Buche im Wald? „Nein. Dafür ist es hier zu windig. Ich denke nicht, dass die größer wird als 15 Meter. Denn wir haben hier leicht-alpine Bedingungen.“
Tatsächlich. Denn jetzt erreichen die „Bergsteiger“ die Baumgrenze. Es ist, als habe die Natur den Schalter umgelegt. Hier und da gibt es noch ein paar Büsche. Im Wesentlichen jedoch gibt es nur noch Wiesen. Die sind recht feucht. Und so haben sich am Rande der befestigten Wege, auf die die kleine Truppe nun endlich zurückkehrt, Feuchtgebiete gebildet. Einige, erklärt Ralf Nickel, seien wohl nur temporär und dem Niederschlag der vergangenen Wochen geschuldet. Andere müssten immer feucht sein. „Das erkenne ich daran, dass hier Binsen wächst.“ Der brauche es immer trocken. Dann fischt der Naturfreund mit sicherer Hand einen Wasserkäfer aus dem kalten Nass. Auch das kleine Tierchen ist ein Indiz dafür, dass es hier immer feucht ist.
Ein runder Regenbogen um die Sonne über Beckhausen
Beim Blick in den Himmel deutet sich schon der Wetterwechsel an. Noch eben war es sonnig, jetzt zieht erster Dunst auf – und sorgt für ein Naturschauspiel der besonderen Art, das die Wanderer beinahe sprachlos macht: Wie eine Korona hat sich um die Sonne herum ein kreisrunder Regenbogen gebildet.
Nun, beinahe auf dem Gipfel, geht es an das eigentliche Ziel der Wanderung. Hier leben Eidechsen, verrät Ralf Nickel. Jedoch: Zu sehen sind sie nicht. Dort hinten, zwischen den Sträuchern, würden sie leben. Und sobald es warm genug sei, kämen sie heraus, um sich auf einem Stein zu wärmen. Eidechsen stehen sinnbildlich für die Tiere, denen die Halden in der Stadt ein Refugium sind. An nur wenigen anderen Orten können sie leben. Die meisten natürlichen Lebensräume aber hat der Mensch zerstört.
Der Klimawandel macht die Vogelwelt artenreicher
Wieder kommt Ralf Nickel mit einem Pflanzenteil auf die Begleiter zu. Er mutet an wie der vertrocknete Kopf einer großen Distel. Es ist aber das obere Ende einer Karde. Und schon hat man eine Idee davon, wofür diese Pflanze einst nützlich war: „Damit haben die Menschen frühe Wolle kardiert.“ Mit den Blütenköpfen, die wir kleine Bürsten sind, wurden damals die zunächst ungeordneten Fäden in eine Richtung gebracht, eine wichtige Vorbereitung für das Spinnen.
So üppig dieser Lebensraum hier auch scheint, der Klimawandel macht sich auch hier bemerkbar. Hier gibt es Pflanzen oder Vögel, die vor wenigen Jahrzehnten in Gelsenkirchen gar nicht vorkamen. „Zum Beispiel wird die Vogelwelt wirklich artenreicher. Aber das hat zwei Seiten: Die Lebensräume verschieben sich nach Norden oder in die Höhe. Und dort wird es dann sehr eng, werden die verdrängt, die schon immer da waren.“