Gelsenkirchen. Die Versprechen, die die Gelsenkirchener Abgeordneten aus den Ampel-Parteien gegeben haben, um Gelsenkirchen zu entlasten, rücken in weite Ferne.

Gelsenkirchen ist in der Berliner Ampelkoalition vergleichsweise stark vertreten. Immerhin kommen der Bundesjustizminister, Marco Buschmann (FDP), die Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, Irene Mihalic, und der SPD-MdB Markus Töns aus der Emscherstadt. In den Interviews mit unserer Redaktion hatten alle drei versprochen, sich dafür einzusetzen, besonders belastete Kommunen wie Gelsenkirchen zu entlasten. Doch bei den wichtigsten Versprechen hakt es gewaltig.

„Städte, die wie Gelsenkirchen Strukturbrüche erleiden mussten, sollen unterstützt werden. Die Altlasten sollen auf einen Fonds übertragen werden, deren Zinslast dann der Bund trägt. So ermöglichen wir vor Ort wieder Spielraum für mehr Zukunftsinvestitionen“, hatte beispielsweise Bundesjustizminister Marco Buschmann gegenüber der WAZ Gelsenkirchen erklärt.

Doch von solch einem Fonds ist weiterhin nichts zu sehen. Zweifelsfrei wurden die Pläne und Visionen von SPD, Grünen und FDP durch den Angriff Russlands auf die Ukraine und die daraus resultierende Energiekrise torpediert. Plötzlich standen unerwartet gewaltige Ausgaben für die Bundeswehr beispielsweise im Vordergrund, wofür andere Koalitionsversprechen auf der Liste weiter runterfielen.

Steigende Belastungen für Städte - Altschuldenfonds noch nicht in Sicht

Unterm Strich aber bleibt: Die Lasten, die Städte wie Gelsenkirchen zu tragen haben, werden immer erdrückender, während die Entlastung nicht ausreicht. Die Liquiditätskredite der Stadt Gelsenkirchen, welche üblicherweise mit den Altschulden gemeint sind und vereinfacht gesagt den „Dispokredit“ des städtischen Kontos beschreiben, lagen im Haushaltsjahr 2021 bei etwa 553 Millionen Euro. Für 2023 rechnet die Stadt mit knapp 9 Millionen Euro allein für die Zinsaufwendungen. Und da die Europäische Zentralbank (EZB) zur Bekämpfung der Inflation die Strategie eingeleitet hat, den Leitzins nach einer jahrelangen Niedrigzinsphase wieder anzuheben, droht die Zinsbelastung noch dramatischer zu werden.

Dazu kommen weitere steigende Belastungen für die Kommune – etwa durch die gestiegenen Energie- und Baupreise wie auch durch die hohe Anzahl geflüchteter Menschen, die zu versorgen sind. „Wir gehen im Haushalt 2023 von einem Eigenanteil von rund 43,6 Millionen Euro der Stadt Gelsenkirchen an den Gesamtaufwendungen im Themenfeld Flüchtlinge und Zuwanderung aus“, hatte kürzlich noch Sozialdezernentin Andrea Henze (SPD) erklärt. Dass Gelsenkirchen vor einigen Wochen vom Land zusätzlich 4,8 Millionen Euro für die Versorgung geflüchteter Menschen bekommen hat, ist daher alles andere als auskömmlich. „Und in diesen knapp 44 Millionen Euro sind die anteiligen Kosten für Kita- oder Schulneubau, die durch den Zuzug der Menschen erforderlich sind, noch gar nicht erhalten“, unterstrich Henze.

In ihrem Koalitionsvertrag hatten CDU und Grüne in NRW vereinbart, mit dem Bund über eine Entlastung der Kommunen von den Altschulden zu verhandeln. Sollte der Bund dieser „Verantwortung nicht nachkommen“, bekennen sich die Regierungspartner dazu, noch in diesem Jahr „selbst eine Lösung herzustellen und dafür einen Altschuldenfonds einzurichten“. Stadtkämmerer Luidger Wolterhoff hegt keine großen Hoffnungen, dass Bund und Land oder das Land alleine schnell eine Lösung präsentieren werden, obgleich Wolterhoff betont, dass er überzeugt ist, dass die Gelsenkirchener Abgeordneten in Düsseldorf und Berlin für ihren Wahlkreis kämpfen würden.

Was ist mit der Kindergrundsicherung, die die Gelsenkirchener Abgeordnete wollten?

Ein weiteres Herzensprojekt der Gelsenkirchener Abgeordneten – insbesondere von Irene Mihalic – ist die Kindergrundsicherung, wie das Trio im Gespräch mit der WAZ in den Anfangstagen der Ampel-Regierung erklärte. „Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut und in Gelsenkirchen sind aktuell gar 42 Prozent der Kinder von Armut betroffen. Das dürfen wir nicht länger hinnehmen. Daher ist es wichtig, dass vor allem der Bundesfinanzminister sich endlich eindeutig zur Kindergrundsicherung bekennt und ihre Umsetzung aktiv in die Wege leitet“, hatte Mihalic noch vor wenigen Wochen offensiv gefordert und das Wort auch an ihren Gelsenkirchener Kollegen Buschmann gerichtet.

Die Kindergrundsicherung

Die Kindergrundsicherung ist ein Vorhaben der Ampel-Koalition, das eine umfassende Familienförderung darstellen soll, die nicht nur an finanziellen Bedürfnissen orientiert ist. Stattdessen soll sie Kindern und Jugendlichen ein selbstbestimmtes Aufwachsen ermöglichen und Familien unterstützen, ihre Kinder bestmöglich zu fördern.

Alle bisherigen staatlichen Leistungen wie Kinderzuschlag, und Teile des „Bildungs- und Teilhabepakets“ sollen durch diese Reform übersichtlich gebündelt werden. Das hat den Hintergrund, dass viele Familien ihre Ansprüche gegenüber dem Staat nicht geltend machen, weil sie mühsam unterstützende Maßnahmen bei verschiedenen Behörden beantragen müssen.

Derzeit gewährt der Staat für jedes Kind bis zum Ende der ersten Ausbildung oder des Studiums zum 25. Lebensjahr ein Kindergeld von 250 Euro pro Monat. Parallel dazu gibt es Kinderfreibeträge, die je nach Anzahl der Kinder einen bestimmten Anteil des Einkommens ausmachen, auf den keine Steuern fällig werden.Zukünftig soll es statt des Kindergelds einen gleich hohen „Garantiebetrag“ als Kindergrundsicherung geben. Dieser Betrag wird durch einen gestaffelten Zusatzbetrag erhöht, um Kinder in armen Familien zu unterstützen. Der Garantiebetrag soll mindestens dem Kindergeldbetrag und der maximalen Entlastung aufgrund des Kinderfreibetrags von 354 Euro pro Monat entsprechen. Wenn Kinder ausziehen, wird das Geld direkt an sie ausgezahlt und dient dann zur Finanzierung von Studium und Ausbildung.

Dieser zeigte sich ob der öffentlichen Ansage verblüfft und antwortete unter anderem: „Die Politik muss endlich wieder lernen, mit dem Geld auszukommen, das sie hat. Nicht alles Wünschenswerte ist auch sofort finanzierbar. Das kennt jeder Mensch aus seinem täglichen Leben“, erklärte Bundesjustizminister Marco Buschmann gegenüber der WAZ. Auffällig ähnlich klingt, was Buschmanns Parteifreund, Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP), nun erklärt. Lindner ist gegen eine Erhöhung der Leistungen. Für Familien mit Kindern sei bereits viel passiert, sagte er der „Bild am Sonntag“ und verwies auf die Erhöhung des Kindergelds auf 250 Euro. Mehr sei zwar „immer wünschenswert, aber nicht immer möglich“.

Irene Mihalic unterstreicht indes, dass die Kindergrundsicherung „das zentrale familien- und sozialpolitische Projekt der Ampelkoalition ist, zu dem sich alle Partner bekannt haben“.

Natürlich sei klar, dass es dies nicht zum Nulltarif geben wird „und jeder Cent, den wir hier investieren, wird sich am Ende mehrfach auszahlen.“ Bei der Kindergrundsicherung handele es sich schließlich um eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, der sich alle Koalitionspartner gleichermaßen verpflichtet fühlen sollten, so Mihalic. Die Grünen-Politikerin will die Absage Lindners deshalb nicht hinnehmen und erklärt: „Der Finanzminister bestimmt nicht allein, welche Prioritäten im Haushalt gesetzt werden. Es kommt jetzt vor allem auf die SPD und den Bundeskanzler an.“

Und auch der direktgewählte Abgeordnete der SPD, Markus Töns, wird beim Thema Kindergrundsicherung deutlich: „Ich bin fassungslos über die Aussagen Lindners. Wir haben die Kindergrundsicherung im Koalitionsvertrag vereinbart und daran werden sich alle halten müssen.“ Dass das Paket Geld kosten wird, stehe außer Frage, aber Rot-Grün-Gelb habe versprochen, die Schwächsten in der Gesellschaft zu stärken - und das seien nun mal arme und armutsgefährdete Kinder. „Ich finde es perfide, menschenverachtend und arrogant, was Lindner tut - und in keiner Weise hinnehmbar“, macht Töns klar.

Der Sozialdemokrat geht davon aus, dass trotzdem noch in diesem Jahr ein entsprechender Gesetzesentwurf eingebracht werde, im Zweifel auch auf Druck des Bundeskanzlers.

„Bei über 150 familienpolitischen Leistungen haben wir vor allem strukturelle Probleme. Der Staat stellt Milliarden für Familien bereit - aber zu viele dieser Leistungen werden nicht abgerufen, weil sie zu kompliziert sind. Für die Bekämpfung der Kinderarmut fehlt es weniger an Geld - es fehlt an Klarheit und Einfachheit in der Struktur bestehender Leistungen“, unterstreicht indes Minister Buschmann.