Gelsenkirchen. Was passiert mit Jugendlichen, die überhaupt nicht mehr erreichbar sind? So versucht man diese „Entkoppelten“ in Gelsenkirchen noch einzufangen.
Sie sind völlig entgleist, und es ist eine knallharte Herausforderung, sie wieder auf die richtige Bahn zu bringen: „Entkoppelte Jugendliche“ – dieser Begriff steht für junge Menschen im Alter zwischen 15 und 25 Jahren, die in keiner Beziehung mehr zum sozialen Hilfesystem stehen und den Kontakt zu den Behörden meiden. Es liegt in der Natur der Sache, dass sich die Größe dieser „unsichtbaren“ Gruppe statistisch nur schwer erfassen lässt, „es ist aber mit einer großen Dunkelziffer zu rechnen“, glaubt Holger Ott, Geschäftsführer der Katholischen Jugendsozialarbeit (KJS), wo die zentrale Hilfe für diese „Entkoppelten“ in Gelsenkirchen erfolgt.
Hier gibt es aktuell 32 Plätze für „entkoppelte“ Heranwachsende, die wieder an eine Tagesstruktur herangeführt werden sollen – ob mit Hauswirtschaft, Modelltischlereien oder auch Mathematikunterricht. „Es geht hier um junge Menschen mit desolaten häuslichen Verhältnissen“, sagt Ott über die „oft depressive“ Zielgruppe. „Es gibt Schwierigkeiten mit den Erziehungsberechtigten, Probleme mit Drogen, fragile Patchwork-Systeme, zu viele Menschen in kleinem Wohnraum ...“
Ein geringer Teil der Jugendlichen komme sogar aus der Obdachlosigkeit. Auch deshalb gibt es Übernachtungsmöglichkeiten bei der KJS, unter anderem in Tiny Houses, also Kleinsthäusern, die hier eigenständig von jungen Menschen gebaut werden.
Nicht erreichbare „Entkoppelte“ in Gelsenkirchen: „Transferempfänger für die nächsten 50 Jahre“
Jüngst hat Holger Ott Bilanz gezogen, wie vielen „Entkoppelten“ in den vergangenen fünf Jahren bei der KJS geholfen werden konnte. Im Zeitraum von fünf Jahren seien demnach 732 Jugendliche aufgesucht worden. „Von denen konnten wir 393, also 54 Prozent, in eine tagesstrukturierende Maßnahme bringen und 280 intensiv, also länger als zwei Monate, begleiten“, sagt er. Von den intensiv Begleiteten wiederum seien 37 Prozent „nachhaltig berufsbezogen vermittelt worden“ – ein Teil in sozialversicherungspflichtige Arbeit, viele in berufsvorbereitende Maßnahmen des Jobcenters.
Ott wertet die Zahlen durchaus als Erfolg. „Das sind alles Menschen, die wären sonst verloren“, sagt er. Nur was ist mit den 339 der 732 Kinder, die zwar aufgesucht wurden, mit denen aber kein richtiger Kontakt gefestigt werden konnte? Sie sind eben genau das: verloren. „Das Risiko ist sehr groß, dass diese Menschen Transferempfänger für die nächsten 50 Jahre werden.“ Die Hilfe für die „Entkoppelten“: Sie ist damit die letzte Instanz vor dem Absturz.
Allein aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten ist Ott deshalb überzeugt, dass man viel mehr Geld und Personal in Projekte wie seines stecken müsste. Ein Langzeit-Bürgergeld-Empfänger könnte dem Staat über die Jahre schließlich schnell mehrere Hunderttausend Euro kosten. „Bei uns aber kostet ein Erfolgspunkt rund 22.500 Euro“. Erfolgspunkt nennt Ott es, wenn ein Jugendlicher durch das Programm „die Kurve gekriegt hat“, „integriert wurde“, also im Anschluss eigenständig ein Leben in einer eigenen Wohnung führen kann oder an den Arbeitsmarkt herangeführt wurde.
Experte für Soziale Arbeit: „Das ist eine richtige pädagogische Kunst“
Situation durch die Pandemie verschärft
Das Jobcenter hat es entweder mit „Entkoppelten“ zu tun, die „aus sämtlichen institutionellen Kontexten herausgefallen sind“, also sich weder in Schule, Ausbildung, Arbeit oder Berufsvorbereitung befinden noch Leistungen des Jobcenters in Anspruch nehmen. Unter ihnen fallen jedoch auch diejenigen, „die zwar Bürgergeld über ihr Elternhaus beziehen oder die eine eigene Wohnung haben, jedoch über längeren Zeitraum keine Beratungsleistungen mehr annehmen“. Leistungsminderung nehmen sie dabei in Kauf.
„Die zuletzt genannten Jugendlichen entziehen sich Kontakten mit dem Jobcenter“, sagt Jobcenter-Geschäftsführerin Anke Schürmann-Rupp. „Sie reagieren meist nicht auf Einladungen zu persönlichen Beratungsgesprächen oder ignorieren telefonische Kontaktversuche.“ Gelinge doch eine Vereinbarung, so würde diese „manchmal schon am nächsten Tag nicht mehr eingehalten“. Eine kontinuierliche Arbeit zur Beseitigung bestehender Schwierigkeiten sei „in diesem Fall kaum möglich“.
Und: „Während der Pandemie hat sich die Situation verschärft, insbesondere dadurch, dass zum Teil kein geregelter Schulbesuch stattgefunden hat oder an digitalem Unterricht nicht regelmäßig teilgenommen wurde“, bedauert die Jobcenter-Chefin.
Dass Projekte wie die der KJS aber nicht etwa mit doppelt so vielen Plätzen ausgestattet werden, liegt auch an der „gut bekannten schwierigen finanziellen Situation von Kommunen wie Gelsenkirchen“. Darauf macht Dirk Nüsken, Professor für Soziale Arbeit an der Evangelischen Hochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum, aufmerksam. „Für die Jugendhilfeleistungen sind die Kommunen zuständig. Deren schwierige wirtschaftliche Lage schlägt sich hier natürlich durch und sorgt für geringe Gestaltungsmöglichkeiten.“
Hinzu komme der Fachkräftemangel in den oftmals projektbasierten, deshalb häufig befristeten und demnach „prekären“ sozialen Berufen. „Wir haben kein wirklich rechtliches Problem für die Kinder- und Jugendhilfe, wir haben ein Vollzugsproblem“, sagt Prof. Nüsken deshalb. Denn eigentlich seien mit der Reform des Kinder- und Jugendhilfegesetzes 2021 rechtliche Ansprüche und Hilfsbedarfe für „Entkoppelte“ und andere jugendliche Problemgruppen gestärkt worden. „In der Umsetzung aber hapert es“, so Nüsken.
Darüber hinaus gibt es ein weiteres Problem, das Nüsken als „ethisches Dilemma der Sozialpolitik“ bezeichnet. „Ich kann volljährige Menschen ja nicht zwanghaft mit Hilfen ausstatten“, sagt er. Denn Hilfsprogramme wie die der Katholischen Jugendsozialarbeit seien ab dem Alter von 18 Jahren nun einmal freiwillig. „Und oft ist alleine das ein dickes Brett: Junge Menschen, die in keinem System mehr Andockung finden, müssen erst einmal wieder Vertrauen gewinnen. Da ist ein Wiederaufbau dieses Vertrauens durch persönliche Kontaktarbeit gefragt. Das ist eine richtige pädagogische Kunst.“