Gelsenkirchen-Buer. Welch hohe Wellen die Klagen über Ruhestörung in Gelsenkirchen-Buer schlägt. Polizei beziffert Einsätze in letzten Monaten. Was ein Jurist meint.
Wie viel Leben braucht Buers City – und wie viel Leben erträgt die Nachbarschaft? Um diese Frage kreist die Auseinandersetzung über Lärmbelästigung rund um die Gastronomie an der unteren Hagenstraße, die bei Akteuren und Gästen sowohl in sozialen Netzwerken als auch in analogen Kneipengesprächen hohe Wellen schlägt. Unterdessen redet die Polizei auf Nachfrage der Redaktion Klartext, wie oft sie in den vergangenen Monaten tatsächlich wegen Ruhestörung alarmiert wurde.
Die Sympathien von Facebook-Usern, sie sind eindeutig verteilt: Die übergroße Mehrheit der Kommentatoren stärkt Gastronom Christoph Klug den Rücken, der Anfang vergangener Woche einen Hilferuf abgesetzt hatte, nachdem eine benachbarte Familie am Wochenende zuvor Polizei und Kommunalen Ordnungsdienst benachrichtigt hatte.
„Weitermachen!“: Gelsenkirchener Gastronomie-Gäste stärken „Fuck“-Wirt den Rücken
Man solle „sich wegen einer Person nicht die Tradition kaputt machen“ lassen, heißt es da etwa unter Verweis auf das 50-jährige Bestehen des „Lokals ohne Namen“ 2022 (im Volksmund: „Fuck“) sowie auf das Bermuda-Dreieck in Bochum, wo sich Kneipen-Szene und Anwohner sehr wohl vertrügen.
„Weitermachen!!!“, appellieren andere Nutzer, und: „Halte durch. Wir stehen hinter dir. Ansonsten stirbt Buer mehr und mehr aus“, sowie „Städte brauchen drei Dinge: 1. Leben, 2. Leben, 3. Leben“. Dass früher nur einmal im Jahr im „Fuck“ Konzerte stattgefunden hätten, wie es ein Anwohner im Gespräch mit der Redaktion erklärt hatte, ziehen gleich mehrere User in Zweifel. In der Innenstadt hätten sich Nachbarn früher um 4 Uhr auch mit „Karstadt“-Anlieferverkehr arrangieren müssen.
Kommentator klagt über „einseitige“ Diskussion, die Nachbarn außer Acht lasse
Eine Kommentatorin äußert derweil ihr Unverständnis gegenüber „Menschen, die sich ,trauen’, innerhalb einer Stadt zu wohnen, ohne Veränderungen anzunehmen“; sie selbst wohne bewusst außerhalb, weil eine Innenstadt „immer in Bewegung“ sei, „für die einen positiv und für anderen negativ“.
Unterdessen kritisiert ein Nutzer die „einseitige Meinung“ in der öffentlichen Diskussion. Es sei offen, wie viele andere Nachbarn sich ebenfalls belästigt fühlten, aber nicht trauten, an die Öffentlichkeit zu gehen. Er führt „unabhängig von der moralischen Lage“ den „Rechtsanspruch auf Ruhe im Sinne der Lärmschutzverordnungen“ an und regt den Einsatz eines „erfahrenen Mediators“ vor. Wie berichtet, hatte der Anwohner im Gespräch mit der Redaktion die Ruhestörung als „Hölle“ bezeichnet.
Verein „Insane Urban Cowboys“: Kein Problem nur in Gelsenkirchen-Buer
Dass es sich bei den Beschwerden über nächtliche Ruhestörung um kein Buer-spezifisches Problem handele, betont der Verein „Insane Urban Cowboys“, der – wie berichtet – im Auftrag der Stadt im Oktober 2022 die Veranstaltungsreihe „Urbanus-Herbst“ auf der unteren Hagenstraße organisiert hatte.
Den Anspruch der Nachbarschaft auf Ruhe ab 22 Uhr hatte Anfang vergangener Woche die Stadtverwaltung unter Hinweis auf gerichtliche Auseinandersetzungen herausgestellt. Mit diesem Argument hatte die Familie in den vergangenen Monaten immer wieder Polizei und Kommunalen Ordnungsdienst verständigt.
Polizei Gelsenkirchen: 53 Einsätze an Hagenstraße zwischen Juni und Dezember 2022
Wie die Polizei auf Nachfrage der Redaktion mitteilt, ist sie zwischen Juni und Dezember 2022 insgesamt 53 Mal wegen nächtlicher Ruhestörung zur Hagenstraße ausgerückt, im Monat Januar sieben Mal. Die Beschwerden seien zwischen 23 und 4 Uhr morgens eingegangen. Rein rechnerisch wurden die Ordnungshüter also jedes Wochenende mindestens einmal verständigt.
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Ob die Meldung einer Ruhestörung jeweils berechtigt war, könne pauschal nicht beantwortet werden, heißt es auf Nachfrage. „Das subjektive Empfinden von störenden Geräuschen kann individuell verschieden sein. Die Polizei geht den gemeldeten Ruhestörungen natürlich nach, kann aber nicht bewerten, ob diese Hinweise berechtigt waren. Wenn die Kolleginnen und Kollegen am Einsatzort eintreffen, stellt sich manche Situation bereits anders dar und die Lärmquelle ist mitunter nicht mehr vorhanden“, so Sprecherin Merle Mokwa.
Bezirksbürgermeister Schneider setzt auf Bürgerversammlung Anfang Mai
Auch vor diesem Hintergrund regt der Verein „Insane Urban Cowboys“ Schallmessungen an, „die eindeutig klären, ob beim Beschwerdeführer der Dezibelwert überschritten wird“. Es sei unklar, was Musik sei, die nach draußen dringt, und was Gesprächslärm, der zu Gästen der Gastronomie gehört – oder zum öffentlichen Raum, für den der Wirt eben nicht verantwortlich sei. Der Verein plädiert dafür, Wege zur Stärkung der Gastronomie im Außenbereich zu finden, etwa durch eine Konzession bis 24 Uhr. Eine Berufung nur auf die Gesetzeslage wertet er als „einseitig“.
Derweil hält Rechtsanwalt Arndt Kempgens die rechtliche Situation an der unteren Hagenstraße für „schwierig“: Einerseits habe das Bundesverwaltungsgericht klargestellt, dass Wirte verpflichtet seien, für das ordnungsgemäße Verhalten ihrer Gäste Sorge zu tragen, sprich: Der Gastronom müsse diese darauf hinweisen, dass Getränke nicht mit nach draußen genommen werden dürfen und dass draußen nach 22 Uhr Gespräche nur in Zimmerlautstärke zulässig seien. Es sei allerdings die Frage, ob er als „Veranstalter“ in letzter Konsequenz auch verantwortlich sei, wenn Nicht-Gäste vor seinem Lokal Lärm verursachen.
„Außerdem muss auch ein Ausgleich mit den berechtigten Interessen von jungen Leuten erzielt werden, die grundrechtlich Anspruch auf Entfaltung haben, auch in der Innenstadt“, so der Jurist auf Nachfrage der Redaktion. Letztlich müsse immer der Einzelfall betrachtet werden.
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Unterdessen setzt Bezirksbürgermeister Dominic Schneider auf eine Bürgerversammlung „wohl Anfang März“, bei der Wirt und Anwohnerschaft sich austauschen können. „Ich hoffe sehr, dass wir bei diesem Treffen zu einer einvernehmlichen Lösung kommen. Schließlich wollen wir eine lebendige City – und dazu gehört eine Gastronomie, die so attraktiv ist, dass sie auch Leute aus anderen Städten anlockt.“