Gelsenkirchen. Zwischen passivem Widerstand, Bürgerkrieg und sozialem Elend: Wie die Menschen im heutigen Gelsenkirchen die Ruhrbesetzung 1923 erlebten.
Es war eine Militäraktion mit Ansage: Schon Ende 1922 hatte Siegermacht Frankreich der deutschen Regierung gedroht, das Ruhrgebiet als „produktives Pfand“ zu besetzen, falls sie erneut mit der Begleichung der Kriegsschulden in Verzug geraten sollte. Dennoch dürften sich die Horster am 11. Januar 1923 verwundert die Augen gerieben haben, als morgens eine Radfahr-Abteilung französischer Alpenjäger als Vorhut auftauchte. Die Ruhrbesetzung hatte begonnen. Sie sollte die wirtschaftliche Krise in Deutschland massiv verschärfen – und den Großteil der Menschen im Raum Gelsenkirchen ins Elend stürzen.
Knapp fünf Jahre nach dem Ende des Ersten Weltkriegs ächzte die junge Weimarer Republik unter den Reparationszahlungen. Dass die Jahresraten die deutsche Zahlungsfähigkeit überstiegen, wollte die selbst hoch verschuldete französische Regierung nicht glauben. Und so setzte sie, als Kohle und Holz in der geforderten Menge ausblieben, ihre Warnung um mit dem Ziel, Lieferungen von Kohle und Stahl nach Frankreich zu sichern.
Bürger im Raum Gelsenkirchen empfingen Soldaten mit Verwünschungsrufen
Von den rechtsrheinischen Brückenköpfen Düsseldorf und Duisburg aus marschierten französische und belgische Truppen mit insgesamt 45.000 Soldaten ins Revier ein, Geheimpolizei inklusive. Buer wurde am Abend des 13. Januar erreicht. Die Besatzungszone reichte im Norden bis zur Lippe, im Osten bis Dortmund und Lünen und endete im Süden zwischen Ruhr und Wupper. Die damals noch eigenständige Gemeinde Horst hatte innerhalb eines Tages 1380 Soldaten, 39 Offiziere und 274 Pferde zu versorgen und unterzubringen.
Wie auch in den noch selbstständigen Städten Buer und Gelsenkirchen, wo der Aufmarsch neugierig aus Fenstern beobachtet und von Hunderten Kindern begleitet wurde, quartierte man die Soldaten in Gasthäusern und Schulen ein, die vielfach mit Stacheldraht gegen Angriffe gesichert wurden. Die Truppen dürften schon an den Verwünschungsrufen und dem Singen nationaler Lieder in Buer erkannt haben: Willkommen waren sie nicht. Aber insgesamt bemühten sich sowohl Franzosen als auch Belgier, die Bevölkerung nicht zu sehr gegen sich aufzubringen, so Historiker Stefan Goch, bis vor einigen Jahren Leiter des Instituts für Stadtgeschichte.
Zechen in Gelsenkirchen setzten Weisung „passiver Widerstand“ sofort um
Dennoch waren die Folgen des Einmarschs für jeden im Alltag spürbar: Die Besatzer verhängten den Belagerungszustand, verkündeten per Plakaten eine Ausgangssperre zwischen 7 Uhr abends und 7 Uhr morgens und erließen besondere Pass- und Einreisebestimmungen. Zwar blieben deutsche Gesetze in Kraft und die Polizei versah weiter ihren Dienst, aber die oberste Gewalt ging an die französischen Militärbehörden. Trotzdem blieb es eher ruhig im Raum des heutigen Gelsenkirchens.
Auf die Weisung der deutschen Reichsregierung, „passiven Widerstand“ zu leisten, reagierten die Zechenbetreiber prompt: In Rotthausen verweigerte das Bergwerk Dahlbusch die Lieferung von Kohle nach Frankreich, woraufhin der Zechendirektor am 21. Januar verhaftet wurde und die Belegschaft in den Streik trat. „Ähnlich lief es bei den anderen Zechen ab, die nur noch für den Eigenbedarf förderten, aber nicht verhindern konnten, dass Vorräte oder Halden nach Frankreich oder Belgien abtransportiert wurden“, schreibt Goch. Insgesamt sank so die Kohleförderung im Revier gegenüber 1922 um 57 Prozent.
„Inkasso-Division“ der Besatzer trieb Kohle und Geld bei Privatleuten ein
In Buer gingen die Soldaten deshalb dazu über, Kohle und Holz bei Privatleuten zu requirieren. Ebenso verfuhren sie bei einer Geldbuße von 100 Millionen Reichsmark, die sie der Stadt Gelsenkirchen auferlegt hatten, nachdem am 12. Februar 1923 bei einer Schießerei zwei französische Gendarmen von einer deutschen Polizeistreife getötet worden waren. Diese hatten zuvor Polizeioberwachtmeister Hutmacher von der Zentrumswache tödlich verwundet.
Weil die Stadtführung die Zahlung verweigerte, wurden Oberbürgermeister und Stellvertreter verhaftet und 31 Polizisten der Bezirkswache Bismarck entwaffnet, misshandelt und im „Parademarsch“ nach Buer abgeführt und in Recklinghausen inhaftiert. Das Bußgeld trieben die Soldaten in nur drei Tagen bei Reichsbahn, Stadtkasse und Leibesvisitationen an Passanten ein. Die damit beauftragten Besatzer taufte der Volksmund sarkastisch „Inkasso-Division“.
Beisetzung von Polizisten in Gelsenkirchen geriet zur Groß-Demo gegen Besatzung
Die Beisetzung von Oberwachtmeister Hutmacher am 16. Februar aber geriet zu einer riesigen Demonstration der Gelsenkirchener gegen die Ruhrbesetzung. Tausende Menschen säumten die Straßen, alle Geschäfte blieben geschlossen, berichtet Goch.
Noch größere (und sogar internationale) Aufmerksamkeit erlange die „Bluttat von Buer“: Am 10. März wurden mit Pierre Colpin und Augustin Joly zwei französische Offiziere erschossen. Ob von einem französischen Alpenjäger (so die deutsche Seite) oder von zwei deutschen Verdächtigen, die nach ihrer Verhaftung auf der Flucht getötet worden waren: Das war unklar.
Nach der „Bluttat von Buer“ gingen die Wogen der Emotionen in Paris und Berlin hoch
Fakt ist: Der Ortskommandant für Buer erließ eine Ausgangssperre und ließ Oberbürgermeister, Sparkassendirektor sowie zwei Bürger als Geiseln verhaften. Mehrere Bürger wurden misshandelt, der aus Gelsenkirchen stammende Kranführer Paul Fabeck von einer französischen Patrouille unter ungeklärten Umständen erschossen.
Daraufhin gingen die Wogen der Emotionen sowohl in Paris als auch in Berlin hoch, sahen sich doch beide im Recht. Der Magistrat Buers erhielt sogar ein Telegramm von Reichspräsident Friedrich Ebert, der den Hinterbliebenen „der so grausam Ermordeten“ seine „herzliche Teilnahme“ übermittelte und sich über „die unmenschlichen Bluttaten des französischen Militärterrors gegenüber den friedlichen, schuldlosen Bürgern Ihrer Stadt“ empörte.
Historiker: Blanke Not zermürbte den Widerstandswillen gegen die Besatzer
Insgesamt seien die Begegnungen mit den Besatzern „oftmals relativ konfliktarm“ gewesen, meint Goch. Denn den Alltag der Menschen im Raum Gelsenkirchen dominierte die schwierige wirtschaftliche und soziale Situation: Zwar wurden die Arbeitsverweigerer der Bergbau- und Stahlindustrie von der deutschen Regierung entschädigt, aber diese Finanzierung des „passiven Widerstands“ drohte, Deutschland in den Ruin zu treiben.
Die Löhne vermochten mit der galoppierenden Inflation nicht mehr Schritt zu halten. „Blanke Not griff um sich, und diese Not zermürbte auch den Widerstandswillen der Bevölkerung gegen die Besatzer“, umschreibt Historiker Klaus Tenfelde ein Wort, das jene Zeit prägte: Hunger.
Aus Hunger plünderten Menschen in Gelsenkirchen und Buer die Geschäfte
Weil viele Lebensmittelproduzenten angesichts der Geldentwertung ihre Ware horteten und die Ungleichverteilung immer offensichtlicher wurde, wuchs die Unzufriedenheit: Es kam regelmäßig zu Plünderungen von Geschäften, Streiks, Unruhen und Krawallen, Erwerbslosen- und Hungerdemonstrationen, immer wieder mit Toten und Verletzten.
Daran vermochten auch die Volksküchen und Kinderspeisungen von Besatzern einerseits sowie deutschen Behörden andererseits kaum etwas zu ändern. Zu groß war das Elend: Ende 1923 waren in der Stadt Gelsenkirchen etwa 75 Prozent der Bevölkerung auf die Unterstützung aus öffentlichen Mitteln angewiesen; in Buer waren es 85 Prozent.
Massenentlassungen auf den Gelsenkirchener Zechen
Zwar hatte die Reichsregierung am 26. September 1923 die sehnlich erwartete Beendigung des „passiven Widerstands“ verkündet, mit der auch die Finanzierung der Unternehmen endete. Aber die Währungsreform vom November jenes Jahres half dem Revier nicht, da das neue Zahlungsmittel Rentenmark nicht in das besetzte Gebiet gelangte.
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Hinzu kam, dass der Absatz der Ruhrzechen nur schleppend in Gang kam, so dass es ab Mitte Oktober bei den Bergwerken zu Massenentlassungen kam. Außer Consolidation schlossen alle Zechen des Gelsenkirchener Südens, auch bei den Gussstahl- und Eisenwerken wurden fast alle Arbeiter entlassen. Erst Anfang 1924, so Goch, stabilisierte sich mit der verstärkten Aufnahme der Kohleförderung die wirtschaftliche Situation im Revier.
Für Mehrheit der Arbeiterschaft in Gelsenkirchen war Ruhrbesetzung nur eine Episode
Als der Dawes-Plan im August 1924 die Reparationszahlungen neu regelte und der französischen Sanktionspolitik die Grundlage entzog, verließen am 19. Juli 1925 die letzten französischen Soldaten Gelsenkirchen, einen Tag später waren sie komplett aus Deutschland verschwunden. Die Opfer, so Goch, hielten sich in Grenzen: Alt-Gelsenkirchen hatte bis Ende 1924 sechs, Horst drei und Buer neun Tote zu beklagen, hinzu kamen etliche Verletzte.
Was von der Ruhrbesetzung blieb, waren im Raum Gelsenkirchen vergleichsweise wenige Schäden an Wohnungen und Inventar sowie eine langsame Stabilisierung des Lebens „auf einem niedrigen Niveau“. „Für die überwiegende Mehrheit der Arbeiterschaft waren materielle wie soziale Fragen wichtiger als nationale. Für sie war die Ruhrbesetzung nur eine Episode in einem unberechenbaren Jahrzehnt“, so sein Fazit.
Zwei Gelsenkirchener Exponate im Ruhrmuseum
Das Essener Ruhrmuseum zeigt ab Donnerstag, 12. Januar, die Sonderausstellung „Hände weg vom Ruhrgebiet! Die Ruhrbesetzung 1923-1925“, in der auch zwei Exponate aus Gelsenkirchen präsentiert werden.
Gezeigt wird ein Lageplan der Stadt Buer mit Drahtsperren der Besatzer sowie ein Schriftstück aus Buer zur Beschlagnahme von Fuhrwerken und Kohle.
Das Gelsenkirchener Stadtarchiv, Munscheidstraße 14, archiviert zudem etliche Quellen zur Ruhrbesetzung, die Interessierte einsehen können (Info: 0209 169-8551).