Gelsenkirchen. Geschieden, alleinerziehend, ohne Job und manchmal ohne Perspektive: Doch mit dem Gelsenkirchener Projekt „Benim Yolum“ finden Frauen neue Wege.
Diesen Lebensweg hätte sich Emine Eyub wahrscheinlich niemals so ausgedacht – damals, als sie als junge Frau im Land ihrer Wurzeln eine Ausbildung zur Chemielaborantin absolvierte. Es ist ein besonderer Weg, eine besondere Geschichte, die in den nächsten Wochen und Monaten wohl so weitergeht: Die heute 36 Jahre alte Bulgarin, zierlich und stark zugleich, wird schon bald Busse über Gelsenkirchens Straßen steuern.
Überhaupt erst möglich macht dies das Projekt „Benim Yolum“ (zu deutsch: „Mein Weg“), bei dem Mitarbeiterinnen des Vereins „Jugend in Arbeit“ arbeitssuchende Frauen mit Einwanderungsgeschichte auf ihrem Weg in ein neues Leben begleiten. Gefördert wird „Benim Yolum“ vom Jobcenter. Denn das sollen sie ja auch im besten Falle: in Arbeit kommen, weg von der Unterstützung, die das Amt ihnen bietet.
Starke Frauen: Der beeindruckende Weg von Gelsenkirchenerin Emine Eyub
Emine Eyub ist an diesem Morgen in Hassel ziemlich berührt. Sie ist seit 2021 Teil von „Benim Yolum“, sagt: „Ich habe hier viel Hilfe bekommen.“ Wenn sich das Jahr 2022 dem Ende neigt, wird Emine Eyub Abschied nehmen von der Gemeinschaft. Ab Mitte Januar beginnt eine ganz neue Phase, dann liegt vor der jungen Mutter ein ganz neuer Lebensabschnitt. Ihr Weg.
Und ihre Vergangenheit? Emine Eyub erzählt offen über das, was sie erlebt hat. Nach ihrer Ausbildung heiratet sie sofort. Sie sagt heute: „Das war mein großer Fehler“. Sie bekommt drei Kinder, ein Mädchen, zwei Jungen. Der Kleinste ist heute fünf Jahre alt, die Älteste 15 Jahre, der Mittlere neun Jahre.
2012 kommt sie mit ihrem Mann und ihrer Tochter nach Deutschland, seit fast drei Jahren nennt sie Gelsenkirchen ihr Zuhause. „Ich hatte keine Wahl“, sagt sie, wenn sie sich an diese Phase ihres Lebens zurückerinnert. Und dann erzählt sie, warum das so war. In ihrer Ehe lief es gar nicht gut, sie erlebte Gewalt. Irgendwann dann war der Moment da: Sie wollte nur noch raus aus diesem Leben, mit den Kindern, aber ohne Mann. Sie kommt bei einer Freundin unter und dann auch ganz schnell zu einer eigenen Wohnung.
Sie wollte weg vom Jobcenter: So kam Emine Eyub auf die Idee, Busfahrerin zu werden
„Benim Yolum“ ist für Emine Eyub wie der rettende Anker, den sie so dringend brauchte. Und der sie mit auf eine Idee brachte. Durch die Stärke, die das Projekt ihr gab, dachte sie einfach mal neu: Warum nicht Busfahrerin werden? Emine Eyub erzählt vom Sommer, als sie mit ihren Kindern im Auto 2300 Kilometer abgerissen hat, einmal Bulgarien hin und zurück. „Ich fahre gerne Auto“ – dann kann man es auch mal mit dem Busfahren versuchen. Eine Weiterbildungsmesse lieferte den entscheidenden Anstoß, am 16. Januar beginnt ihre Ausbildung.
„Ich will weg vom Jobcenter“, sagt Emine Eyub, diese zierliche starke Frau. Vieles habe sie selbst geschafft, „das war mein ganzes Leben so“ – es ist auch der unbedingte Wille, der sie antreibt.
So ergeht es auch Meryem Yilmaz. Sie wird in Gelsenkirchen geboren, macht ihren Hauptschulabschluss, eine Ausbildung jedoch nicht. „Ich habe mich nicht so schlau gemacht“, erklärt sie ihre Denke und ihr Handeln von einst. Heute sieht das ganz anders aus. Und auch ihre Geschichte, ihr Weg ist ein eindrucksvoller.
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Lange plagten die heute 42-Jährige gesundheitliche Probleme. Sie leidet unter Übergewicht und daraus resultierenden Schmerzen in den Gelenken, ist kaum mehr mobil, nahezu jeder Gang tut weh – an Arbeit ist nicht zu denken. Und dann ist da ja auch noch die Familie: Meryem Yilmaz ist verheiratet, bringt mit 21 Jahren ihre erste Tochter zur Welt. Ihre zweite Tochter ist heute 13 Jahre alt, ihr Sohn zehn Jahre. Bei aller Familien-Arbeit nimmt Meryem Yilmaz massiv ab, unterzieht sich vor etwas mehr als einem Jahr einer Magenverkleinerung.
„Ich möchte gerne arbeiten“, sagt Meryem Yilmaz. „Benim Yolum“ hat ihr den Weg gewiesen. Im Bildungszentrum des Handels wird sie ein Kassentraining machen, eine Schulung, die sie noch einmal fit machen soll für den Umgang mit den Kassensystemen im Einzelhandel. Denn da will sie (wieder) hin, hatte bereits zwei Vorstellungsgespräche. Vor einiger Zeit hatte sie das schon mal gemacht, war Verkäuferin in einem Feinkostladen und in einem Imbiss.
Wenn sie sich erinnert, dann würde sie immer sagen: „Die Arbeit hat mir gutgetan.“ Früher, da habe sie sich mehr und mehr zurückgezogen, im Gespräch mit der ebenfalls so starken Meryem Yilmaz fällt irgendwann das Wort „Rundumerneuerung“ und genau das ist es, was sie in den vergangenen Monaten erleben durfte. „Ich bin mutiger, offener, nicht mehr so zurückhaltend“, sagt die Gelsenkirchenerin. Ihre Zeit bei „Benim Yolum“ ist für sie, wie auch für Emine Eyub, wie ein „Geschenk“ – so würden die beiden Frauen es nennen.
Benim Yolum in Gelsenkirchen: Die Frauen werden offener, mutiger, sind nicht mehr zurückhaltend
Projektkoordinatorin Beate Füssel ist an diesem Morgen gleichsam ergriffen. Mit Meryem Yilmaz und Emine Eyub schickt sie 26 weitere Frauen in eine neue Lebensphase. „Viele Frauen kennen nur die Kindererziehung“, berichtet sie, das eigene Leben sei eng und überschaubar, ein Leben in der eigenen Blase. Was fehlt, ist der erweiterte Austausch, die Impulse von außen, die doch so wichtig sind.
2016 geht die erste Projektrunde von Benim Yolum an den Start. Zunächst richtet sich das Angebot nur an arbeitssuchende Frauen mit türkischen Wurzeln. Im vergangenen Jahr wurde das Projekt für Frauen aus verschiedenen Herkunftsländern geöffnet. Die Idee dahinter: Frauen, egal ob jünger oder älter, in ihren Fähigkeiten zu stärken.
Die Brücke zu den Frauen bildet das Kochen und Handarbeiten in der projekteigenen Nähwerkstatt. Grundlage sind die Gruppenangebote für die bis zu 30 Teilnehmerinnen (in diesem Jahr waren es sogar 39) in den Bereichen Ernährung und Kochen, eben Handarbeit, Kindererziehung, hinzu kommen Ausflüge zu Zielen, die die Frauen wahrscheinlich alleine niemals so mutig und unbekümmert angesteuert hätten – wie zum Beispiel die Bowling-Bahn oder den Zoo.
Benim Yolum in Gelsenkirchen: „Die Hälfte der Frauen ist alleinerziehend“
Den Erfolg des Projekts führt Beate Füssel unter anderem darauf zurück, dass „Benim Yolum“ ein wohldurchdachtes Konzept habe, das von den pädagogischen Mitarbeiterinnen jeden Tag mit Leben gefüllt werde. Und sicherlich auch, dass Tag für Tag die deutsche Sprache geübt werde.
„Die Hälfte der Frauen hier ist alleinerziehend“, berichtet Beate Füssel. Viele seien geschieden, müssen ihr Leben teilweise sogar ohne Unterstützung der erweiterten Familie bestreiten. Das mache es nicht immer leicht, aber bei Benim Yolum finden sie augenscheinlich den Raum zum Austausch. Die Frauen entwickeln sich weiter, gewinnen an Stabilität und vor allem Selbstbewusstsein, auch eigene Entscheidungen zu treffen. Mit all diesen Prozessen kommen die Frauen der eigenen Erwerbsarbeit einen Schritt näher, davon sind die Macherinnen von Benim Yolum überzeugt.
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„Bestimmte Frauen brauchen bestimmte Unterstützung“, meint auch Irene Pawellek. Für die Beauftragte für Chancengleichheit am Arbeitsmarkt im Gelsenkirchener Jobcenter ist gerade dieses Hasseler Projekt eines, das sehr gut zu den Frauen hier passe. Wenn sie die Offenheit zulassen, sich selbst und ihre Familien zu entwickeln, dann komme am Ende dabei heraus: „Dass sie sich im besten Fall auf dem Arbeitsmarkt bewegen“, so Irene Pawellek.