Gelsenkirchen. Was die drei Gelsenkirchener Bundestagsabgeordneten aus den Ampel-Parteien im WAZ-Interview versprochen hatten und wie der Stand der Dinge ist.

Vor rund einem Jahr waren die Deutschen das letzte Mal aufgerufen, einen neuen Bundestag zu wählen, am Ende stand die erste Ampel-Regierung in Berlin. Einige Wochen danach haben sich der neue Bundesjustizminister, Marco Buschmann (FDP), die heutige Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen Irene Mihalic und der direkt gewählte Bundestagsabgeordnete Markus Töns (SPD) im WAZ-Interview zu den Ideen der Ampelkoalition geäußert, wie Städte wie Gelsenkirchen von der neuen Bundesregierung profitieren sollen. Seither hat sich die Welt verändert. Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat enorme Folgen, die alle politischen Felder umfassen. Wie realistisch sind da die Versprechen der Gelsenkirchener Abgeordneten an die Bürgerinnen und Bürger in ihrer Heimatstadt noch? Buschmann, Mihalic und Töns stellen sich den Fragen der WAZ Gelsenkirchen.

Herr Töns, Sie sagten: „Uns ist gelungen, die Altschuldenfrage in den Koalitionsvertrag zu schreiben. Wir wollen diese Frage endlich lösen.“ Herr Buschmann, auch Sie betonten: „Städte, die wie Gelsenkirchen Strukturbrüche erleiden mussten, sollen unterstützt werden. Die Altlasten sollen auf einen Fonds übertragen werden, deren Zinslast dann der Bund trägt.“ Wird es noch einen Altschuldenfonds geben? Können Sie die Länder im Bundesrat davon noch überzeugen?

Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP)
Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) © FUNKE Foto Services | Maurizio Gambarini

Marco Buschmann: Insgesamt hat sich die Lage seit den Koalitionsverhandlungen vor einem Jahr erheblich verändert. Die Folgen des verbrecherischen Angriffskriegs Russlands auf die Ukraine sind für uns alle spürbar. Die Inflation – vor allem getrieben durch gestiegene Energiepreise – stellt auch den Bund vor neue Herausforderungen. Nichtsdestotrotz halten wir an unserem Bekenntnis im Koalitionsvertrag fest und wollen die Problematik kommunaler Altschulden angehen. Auch Bundesfinanzminister Christian Lindner hat das bekräftigt. Der Bund kann das Altschuldenproblem allerdings nicht alleine lösen – es braucht hier die tatkräftige Unterstützung der Länder und deren Bereitschaft zur wechselseitigen Solidarität.

Markus Töns: Die Altschuldenfrage liegt weiter auf dem Tisch. Noch als Finanzminister hat Olaf Scholz einen Plan vorgestellt, mit dem die Länder ihre Kommunen entlasten können. Erste Länder wie Rheinland-Pfalz haben die günstigen Kredite der letzten Jahre bereits genutzt, um ihre Kommunen zu entlasten. Allerdings bleibt die Landesregierung in NRW leider weiterhin stumm, ob sie dieses Thema alleine oder mit dem Bund lösen möchte. Das ist vertane Zeit! Angesichts der aktuellen Krisen müssen wir die Kommunen bereits jetzt im großen Umfang entlasten; insbesondere bei den Energiekosten, aber auch bei der Aufnahme von Geflüchteten.

Irene Mihalic ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und Erste Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Partei.
Irene Mihalic ist Bundestagsabgeordnete der Grünen und Erste Parlamentarische Geschäftsführerin ihrer Partei. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Frau Mihalic, Sie hatten betont, dass finanzschwache Städte wie Gelsenkirchen darüber hinaus entlastet werden sollen, was ihren Eigenanteil bei Förderprogrammen angeht. Städte, die selbst nicht viel Geld aufbringen können, aber besonders auf die Investitionen angewiesen sind, sollen weniger oder gar keinen Eigenanteil aufbringen müssen.

Irene Mihalic: Wir Grüne sind froh, dass der Koalitionsvertrag der Ampel das Thema Förderpolitik adressiert. Gemeinsam haben wir uns zum Ziel gemacht, bestehende Förderungen zielgerichteter auszugestalten und es Kommunen mit größeren Finanzbedarfen zu erleichtern, passende Programme in Erfahrung zu bringen und in Anspruch zu nehmen. Hierfür evaluieren wir gerade die bestehenden Förderstrukturen, um passgenaue Lösungen insbesondere für Städte wie Gelsenkirchen zu entwickeln.

„Und wir haben auch diejenigen nicht vergessen, die nicht von allein in der Lage sein werden, aufzusteigen aus der Armut“, sagten Sie, Frau Mihalic. Als ersten, aber wichtigen Schritt dafür nannten Sie die Kindergrundsicherung, damit „endlich die Kinder im Mittelpunkt stehen und Gelder automatisch ausgezahlt werden, ohne dass komplizierte Anträge zur für viele abschreckenden Hürde werden“. Zuletzt hieß es, dass das Ziel sei, die Kindergrundsicherung ab 2025 auszuzahlen. Bis dahin soll der „Kindersofortzuschlag“ in Höhe von 20 Euro pro Monat helfen, einkommensschwachen Familien zu helfen. Wird es in dieser Legislaturperiode nichts mehr mit der Kindergrundsicherung?

Marco Buschmann: Chancengerechtigkeit gerade für Kinder aus Familien mit geringem Einkommen ist uns ein zentrales Anliegen. Neben dem Kinder-Sofortzuschlag haben wir in den Entlastungspaketen daher auch einen Kinderbonus von einmalig 100 Euro beschlossen und sowohl das Kindergeld wie auch den Kinderzuschlag für einkommensschwache Familien erhöht. So unterstützen wir Familien in diesen herausfordernden Zeiten schon jetzt ganz konkret. Einkommensschwache Familien nachhaltig zu entlasten und Kindern die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben zu ermöglichen, bleibt auch darüber hinaus ein wichtiges Ziel der Koalition.

Versprochen hatten Sie im WAZ-Interview auch, dass das Bürgergeld kommen soll. Dieses soll zu Jahresbeginn 2023 umgesetzt werden. Wirtschaftsvertreter hatten zuletzt aber auch kritisiert, dass die Reform „falsche Anreize setzt, wenn Bürgergeld-Bezieher mehr Geld in der Tasche hätten als manche Beschäftigte“. Insbesondere in Städten wie Gelsenkirchen, wo nicht wenige Arbeitnehmende keine großen Gehälter beziehen, hört man sehr häufig die Wut der Menschen, die nach Abzug ihrer Miete, den enorm gestiegenen Energie-Abschlägen und der wachsenden Inflation, kaum mehr Netto zur Verfügung haben als Hilfeempfänger. Wie begegnen Sie diesen Bürgerinnen und Bürgern?

Irene Mihalic: Wie vor einem Jahr angekündigt, wird das Bürgergeld voraussichtlich ab Januar 2023 an die Bürgerinnen und Bürger ausgezahlt werden. Nach fast zwei Jahrzehnten Hartz IV ist es Zeit für einen sozialpolitischen Aufbruch. Wir wollen ein soziales Sicherungsnetz, das vor Armut schützt, nicht stigmatisiert und die Potenziale der Menschen und ihre individuelle Unterstützung in den Mittelpunkt stellt. Es wird leider immer wieder versucht, soziale Absicherung und Fachkräftemangel gegeneinander auszuspielen. Natürlich müssen wir auch die Anreize für Erwerbstätigkeit weiter ausbauen. Mit der Erhöhung des Mindestlohns auf 12 Euro ist ein erster Schritt zur Verbesserung der Arbeitsverhältnisse getan. Zudem reduzieren wir die Sozialabgaben. Im Rahmen des Entlastungspakets haben wir uns als Ampelkoalition darauf verständigt, zum 1. Januar 2023 die Höchstgrenze der Midijobs weiter anzuheben – auf monatlich 2000 Euro. Dadurch werden Geringverdienende um rund 1,3 Milliarden Euro jährlich entlastet, da sie weniger Beiträge für ihre Sozialversicherung zahlen müssen.

Markus Töns (SPD) ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter aus Gelsenkirchen.
Markus Töns (SPD) ist direkt gewählter Bundestagsabgeordneter aus Gelsenkirchen. © FUNKE Foto Services | Ingo Otto

Markus Töns: Das Bürgergeld ist notwendig, um allen Menschen in Deutschland eine soziale Teilhabe zu ermöglichen. Damit kann das Stigma von Hartz IV endlich überwunden werden. Zudem heben wir parallel den Mindestlohn auf 12 Euro an, sodass Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die den Mindestlohn verdienen sowie 39 Stunden arbeiten, fortan ca. 2000 Euro brutto bekommen. Das hilft auch vielen Beschäftigten in Gelsenkirchen. Außerdem darf in keinem Fall die Folge der steigenden Preise sein, dass wir den Ärmsten der Gesellschaft ihre Teilhabe nicht mehr zugestehen. Deshalb müssen die Löhne steigen; erst recht der Mindestlohn.

Marco Buschmann: Die Berechnung der Regelsätze wird verändert. Künftig erfolgen Inflationsanpassungen beim Regelsatz nicht mehr bis zu anderthalb Jahren rückwirkend, sondern werden vorausschauend berechnet. Gleichzeitig halten wir am Prinzip ‘Fördern und Fordern’ fest, es gibt keine sanktionsfreien Zeiten im Bürgergeld. Leistungsbeziehern, die ihren Mitwirkungspflichten nicht nachkommen, können weiterhin bis zu 30 Prozent der Leistungen gekürzt werden. Zudem gilt für uns weiterhin der Grundsatz, dass der, der arbeitet, auch spürbar mehr haben muss als der, der nicht arbeitet. Deshalb haben wir im dritten Entlastungspaket der Bundesregierung den Abbau der kalten Progression vereinbart. Wir erhöhen den steuerlichen Grundfreibetrag und verschieben die Tarifeckwerte entsprechend der erwarteten Inflation. Für eine vierköpfige Familie mit durchschnittlichem Einkommen bedeutet das eine Entlastung von 680 Euro im Jahr. Insgesamt werden ab Januar 2023 rund 48 Millionen steuerpflichtige Bürgerinnen und Bürger vom Abbau der kalten Progression profitieren.

In den Koalitionsvertrag aufgenommen wurde nicht zuletzt auf Ihr Drängen der knappe Satz: „Wir schaffen ein Bundesprogramm zur Stärkung der gesellschaftlichen Teilhabe und Integration von Menschen aus (Süd)ost-Europa.“ Was ist daraus geworden?

Markus Töns: Das Thema Südosteuropa beschäftigt uns weiterhin. Deshalb haben wir innerhalb der Ampelfraktionen bereits begonnen, uns auf parlamentarischer Ebene zu koordinieren. Wir werden jetzt gemeinsam mit den zuständigen Ministerien auf Bundesebene ein Konzept erarbeiten, wie wir die betroffenen Kommunen entlasten können. Es geht ja nicht nur um Geld, sondern auch um gesetzliche Regelungen, die eine bessere Durchsetzung des Aufenthalts-, Bau- und Ordnungsrechts ermöglichen.

Irene Mihalic: Die Zielgruppe des geplanten Programms, das vom Bundesinnenministerium zeitnah angegangen werden sollte, sind prekär beschäftigte EU-Arbeitsmigrantinnen und -migranten und ihre Familien, die gezielt unterstützt werden sollen. Hier möchten wir die Kommunen bei der Integration vor Ort besser unterstützen. Gleichzeitig wollen wir auch Diskriminierung entgegenwirken, da prekär Beschäftigte Minderheiten oftmals aufgrund ihrer Herkunft ausgegrenzt werden.

Marco Buschmann: Die Integration von Zuwanderern aus Südosteuropa ist in vielen Kommunen, besonders auch in Gelsenkirchen, weiterhin ein drängendes Problem. Als Bund stehen wir weiterhin dazu, die Kommunen bei dieser Herausforderung zu unterstützen.