Gelsenkirchen. Explodierende Energiepreise und zusammenbrechende Lieferketten bringen die Wirtschaft in Existenzangst. Scharfe Kritik gibt’s auch am Bürgergeld
„Die Lage ist todernst“, sagt Michael Grütering. Eine Gemengelage wie diese habe er in seinen 35 Dienstjahren noch nicht erlebt. „Es sind dramatische Verhältnisse“, macht der Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe bei seinem Besuch der WAZ Gelsenkirchen unmissverständlich klar. „Die Auftragsbücher der Unternehmen leeren sich zunehmend, dazu kommen die explodierenden Energiekosten, eine mögliche Gasmangellage, die andauernde Lieferkettenproblematik und der Fachkräftemangel. Nicht wenige Unternehmer haben Existenzängste“, so Grütering.
Dass die Bundesregierung jüngst ein 200-Milliarden-Euro-Entlastungspaket angekündigt hat, sei auch für die hiesigen Unternehmen „psychologisch“ wichtig gewesen. Dass die Bundes- und die Landesregierungen aber noch nicht konkret vereinbart haben, wie die Maßnahmen im Einzelnen aussehen und wirken sollen, sei indes eine herbe Enttäuschung. „Wir brauchen schnellstmöglich Antworten, wir haben jetzt schon Firmen, die uns abschmieren und ich habe große Sorge, dass, wenn nicht jetzt Klarheit geschaffen wird, was die Inhalte dieses Pakets sind, wir Insolvenzen verzeichnen werden“, sagt Grütering.
Auch Jochen Grütters, Leiter des Standorts Emscher-Lippe und stellvertretender Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen, erklärt: „Eine solche Situation wie jetzt, habe ich in meiner langjährigen IHK-Tätigkeit noch nicht erlebt. Die Unternehmen sind konfrontiert mit den Nachwirkungen der Corona-Pandemie, der Ungewissheit der Energieversorgung, den Kosten für Energie und Rohstoffe, der Unterbrechung von Lieferketten, der steigenden Inflation und dem Fachkräftemangel. Man kann sich unschwer vorstellen, dass Anspannung und Besorgnis vorherrschen, auch mit Blick auf mögliche Verluste von Arbeitsplätzen in unserer Stadt. Die Gelsenkirchener Unternehmen, mit denen wir im Austausch sind, vermitteln uns aber auch den Eindruck, dass sie weiterhin alles daransetzen, die Situation zu meistern. Es ist noch keine Resignation spürbar.“
Dennoch müssten die Entlastungsmaßnahmen rasch und unbürokratisch in der Realität ankommen. Finanzierungs- und Kompetenzfragen dürften nicht zu Zeitverzögerungen führen. „Es zählt jeder Tag, an dem die Bundesregierung eher die Regelungen zur Gas- und Strompreisbremse bekannt gibt“, so Grütters.
Unternehmen und Arbeitsplätze in Gefahr
Die Schwerindustrie, die Gießereien etwa, seien bereits jetzt am Anschlag, während vielen mittelständischen Unternehmen die Liquidität auszugehen droht. „Allein deswegen brauchen wir sofort konkrete Ergebnisse zu dem 200-Milliarden-Euro-Paket“, mahnt der Geschäftsführer des Arbeitgeberverbandes nachdrücklich. Wenn der Staat nicht schnell eingreife und einen Energiepreisdeckel einziehe, werden Unternehmen und Arbeitsplätze auf der Strecke bleiben, fürchtet Grütering.
Selbst wirtschaftlich sehr solide aufgestellte Unternehmen könnten die gegenwärtigen Energiekosten bestenfalls für einige Monate schultern, ergänzt Grütters. Dies gilt nicht nur für die energieintensive Industrie, zum Beispiel in der Glasherstellung oder Metallverarbeitung, sondern für nahezu alle Branchen. Wenn es nicht rasch zu adäquaten Entlastungen für die Wirtschaft komme, würden bald auch Gelsenkirchener Unternehmen Existenzprobleme haben.
„Es geht aber nicht nur um Kosten, sondern auch um Lieferketten und Produktionsprozesse. Mir ist ein Unternehmen bekannt, das Salzsäure für seinen Verarbeitungsprozess benötigt. Da in der chemischen Industrie die Produktion bestimmter Stoffe eingestellt oder reduziert ist, bei denen Salzsäure entsteht, ist der Stoff derzeit am Markt nur schwer verfügbar und deutlich teurer geworden“, macht der stellvertretende IHK-Hauptgeschäftsführer auf zusätzliche Nöte hiesiger Unternehmen durch das seit der Corona-Pandemie anhaltende Lieferkettenproblem aufmerksam.
Scharfe Kritik am Bürgergeld: „Wir haben eine dramatische Situation“
Zumindest den Arbeitskräfte- und Fachkräftemangel sieht Grütering darüber hinaus auch noch durch das Bürgergeld, welches das Hartz-IV-System ersetzen soll, weiter verschärft. Verschiedentlich hatten Wirtschaftsvertreter zuletzt bereits ihre Kritik und Sorge geäußert. Der Handwerksverband etwa sieht im Bürgergeld-Konzept falsche Anreize für Geringverdiener. „Es sorgt für Demotivation bei denjenigen, die mit einem geringen Gehalt regulär arbeiten. Am unteren Ende verschwimmen immer mehr die Grenzen zwischen regulärer Arbeit und dem Bürgergeld“, sagte der Präsident des Zentralverbands des Deutschen Handwerks (ZDH), Hans Peter Wollseifer.
Und auch Michael Grütering erkennt im Bürgergeld eine „falsch verstandene soziale Gerechtigkeit“. Den monatelangen Verzicht auf Sanktionen, die auch heute schon nur sehr milde angewandt würden, und die vollständige Übernahme der Wohnkosten für zwei Jahre, könne Grütering „nur schwer einem Normalverdiener erklären“.
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„Wenn jemand mit einem Brutto-Monatsverdienst von 3500 Euro schlechter gestellt wird, als ein Bürgergeldempfänger, ist das schwierig. Ich habe Sorge, dass dadurch bei uns ein gewisser sozialer Sprengstoff entsteht. Ich halte es für falsch und sozial ungerecht, den Bezug von Transferleistungen jetzt so zu erleichtern. Wir müssen immer noch Anreize haben, die Arbeit aufzunehmen“, unterstreicht Rechtsanwalt Grütering.
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Schließlich gebe es nicht nur schon länger einen Fachkräftemangel, sondern auch einen Arbeitskräftemangel. „Die Unternehmen kriegen auch für normale, nicht qualifizierte Arbeit keine Arbeitskräfte. Wir haben so eine dramatische Situation und die Bundesregierung schafft jetzt noch Anreize zum längeren Bezug von Transferleistungen.“
Eine ganz andere Sicht auf das Bürgergeld hatte vor einigen Wochen Mark Rosendahl, Regionsgeschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) im WAZ-Gespräch geäußert. Der Gewerkschafter bewertete das Bürgergeld als „grundsätzlich positiv, weil unter anderem die Höhe der Leistungen angepasst wird“.