Gelsenkirchen. Der Gelsenkirchener Marius Bremer* bearbeitet im Jobcenter Hartz-IV-Anträge. Warum er angesichts des geplanten Bürgergelds fassungslos ist.
Er hat Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) schon vor einer Weile einen Brief geschrieben und nach eigener Aussage keine Antwort bekommen. Doch er will nichts unversucht lassen, um sich Gehör zu verschaffen, weshalb er sich an die WAZ wendet. Was den Gelsenkirchener Marius Bremer*, der in einem Jobcenter im Ruhrgebiet Hartz-IV-Anträge bearbeitet, antreibt, ist seine feste Überzeugung, dass „in unserem Sozialstaat etwas inzwischen gehörig schief läuft“. Auslöser für Bremers Ärger und Sorgen ist das geplante Bürgergeld der Ampelkoalition, das das bisherige Hartz-IV-System ersetzen soll.
„Es gab immer Menschen, die nicht arbeiten gehen konnten oder wollten. Diese gewisse Sockelarbeitslosigkeit muss eine gesunde Gesellschaft verkraften und kompensieren können. Einer der größten Vorteile des Sozialstaates ist der Schutz der Schwächsten“, sagt der gelernte Bankkaufmann und Betriebswirt.
„Kaum noch erkennbarer Unterschied zwischen Arbeitslohn zu Transferleistungen“
Problematisch werde es jedoch dann, wenn sich zu viele Menschen auf die Allgemeinheit verlassen und zulasten des Steuerzahlers, „aus Gründen der Bequemlichkeit oder aufgrund des kaum noch erkennbaren Unterschiedes zwischen Arbeitslohn und Transferleistungen, lieber Transferleistungen erhalten, statt selbst für den Lebensunterhalt aufzukommen“, so der 33-Jährige.
Der Staat, so sieht es Bremer, kapituliere vor der Unwucht zwischen Hartz IV und kaum einträglicherem Niedriglohnsektor. Die bekannte Lösung wäre ein sozialer Arbeitsmarkt, in dem der Staat Jobs, die mangels Wertschöpfung von der Privatwirtschaft nicht besser bezahlt werden können, dauerhaft subventioniert. Das ist umstritten, weshalb Finanzminister Christian Lindner (FDP) bei den Mitteln sparen will. Dabei folgt der soziale Arbeitsmarkt der Logik der wenig erfolgreichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen: Für Langzeitarbeitslose übernimmt der Staat den Großteil der Lohnkosten, damit ein Arbeitgeber ihm eine Chance gibt. Das ist sinnvoll, um Menschen, die lange raus aus dem Erwerbsleben sind, wieder an Arbeit zu gewöhnen. Es ändert aber nichts am Grundproblem, dass Menschen, die aus eigener Kraft einen schlecht bezahlten Job finden würden, damit kaum besser dastehen als ohne Job.
Auf Nachfrage der WAZ Gelsenkirchen erklärt ein Sprecher des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, dass die bereits beschlossene Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Oktober auf 12 Euro dazu beitragen werde, „dass bei Arbeitsaufnahme auskömmlichere Arbeitsentgelte erzielt werden können.“
„Dass das zweite Sozialgesetzbuch auch das Prinzip des ’Forderns’ beinhaltet und der Leistungsempfänger alle Anstrengungen zu unternehmen hat, um seine Hilfebedürftigkeit zu beseitigen, ist in der Praxis und vor allem in der Politik aber nicht mehr zu sehen“, kritisiert Bremer indes. Tatsächlich, so behauptet es der Gelsenkirchener, kämen die Prüfer überdies aufgrund der Masse an Anträgen auch gar nicht mehr ihrer Verpflichtung nach, zu prüfen, ob die Ausgaben gerechtfertigt und notwendig seien. Das Geld werde vielmehr „mit der Gießkanne ausgezahlt“.
„Politik ist weit weg von der Realität“
Dass beim neuen Bürgergeld keine Sanktionen mehr möglich sein sollen, könne weiter weg von der Realität nicht sein, ärgert sich Bremer. Tatsächlich will Arbeitsminister Heil mit dem Bürgergeld zwar ein „neues Miteinander und eine neue Vertrauenskultur“ schaffen. Gänzlich abgeschafft soll die Sanktionsmöglichkeit aber nicht werden. „Leistungsminderungen wird es grundsätzlich weiterhin geben, aber sie werden mit mehr Augenmaß erfolgen“, so der Ministeriumssprecher. Erfahrungsgemäß hätten Arbeitslose in den ersten Monaten und Jahren der Arbeitslosigkeit die größten Chancen auf eine Arbeitsmarktintegration. Dies soll durch die geplanten zweijährigen Karenzzeiten für Wohnen und Vermögen unterstützt werden – „niemand soll ausgerechnet in diesem sensiblen Zeitraum Sorge um das Zuhause oder das Ersparte haben müssen und sich voll auf Qualifizierung und Arbeitssuche konzentrieren können“, heißt es aus dem Berliner Arbeitsministerium.
Dies und die angekündigte Erhöhung des Mindestsatzes um 50 Euro empfindet der Jobcenter-Mitarbeiter indes „als Hohn für Personen, die jeden Morgen aufstehen und versuchen, bei einer 40-Stunden-Woche ihre Familien zu ernähren und trotzdem nachts nicht schlafen können, weil sie nicht wissen, wie die nächste Heizkostenabrechnung bezahlt werden soll. Dieses Problem kennt man als ALG-II-Empfänger nicht, die Heizkostenrechnung wird beim Amt abgegeben und der Steuerzahler zahlt“.
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Grundsätzlich finde er es aber gut und erhaltenswert, die Schwächsten der Gesellschaft zu schützen, wiederholt Bremer seine Sicht der Dinge. „Dies kann jedoch nicht ausschließlich dadurch geschehen, indem die Sozialausgaben immer weiter erhöht werden und den Menschen alles abgenommen wird, sondern vielmehr durch Hilfe zur Selbsthilfe. Es müssen Anreize geschaffen werden, wieder arbeiten zu gehen.“
Damit meint Bremer die Möglichkeit, Leistungen nicht auszuzahlen, wenn sich die Empfänger nicht bemühten eine Arbeit aufzunehmen. Vor wenigen Tagen erst hatte Anke Schürmann-Rupp, Leiterin des Jobcenters in Gelsenkirchens, auf WAZ-Nachfrage erklärt, dass allein in Gelsenkirchen 25.231 erwerbsfähige SGB-II-Bezieher als marktfern gelten“, weil sie die wesentlichen Grundanforderungen nicht (mehr) erfüllten. Ihnen fehlen die sogenannten „Soft Skills“ – „Pünktlichkeit, Teamfähigkeit, Flexibilität und Kommunikationsfähigkeit“. Lesen Sie mehr:Hohe Arbeitslosenquote, viele freie Stellen. Selbst für leichte Jobs. Warum viele Menschen in Gelsenkirchen nicht in einen Job vermittelbar sind.
„Diese Fehlentwicklung kann nicht im Sinne der Politik und erst recht nicht im Sinne des Steuerzahlers sein und muss endlich angesprochen werden, überall fehlen Arbeitskräfte, aber das Geld wird für erwerbsfähige Personen massenhaft rausgeschmissen. Vielleicht sehe ich auch das große Ganze nicht, verstehen tue ich es auf jeden Fall nicht“, zieht Marius Bremer verärgert Bilanz.
*Aus Sorge vor beruflichen Konsequenzen bat Marius Bremer die Redaktion seinen tatsächlichen Namen nicht zu veröffentlichen. Er ist der Redaktion bekannt.