Gelsenkirchen. Frust bei der Feuerwehr Gelsenkirchen. Anrufer alarmieren die Retter zunehmend wegen harmloser Beschwerden. Über das Problem „Bequemlichkeit“.
Von wegen Sommerloch. Die Gelsenkirchener Feuerwehr ächzt unter den hohen Einsatzzahlen. Und ärgert sich immer häufiger darüber, dass die Helfer für Kleinigkeiten alarmiert werden. Feuerwehr-Chef Michael Axinger stellt eine zunehmende „Bequemlichkeit“ bei Hilfesuchenden fest, der Teamleiter des Rettungsdienstes, Andreas Fleige, spricht sogar von einer anwachsenden schädlichen „Vollkaskomentalität“.
Feuerwehr Gelsenkirchen: 20 Prozent der Notrufe entpuppen sich als Bagatell-Alarme
„Vor zwei Tagen erst hat ein Pflegedienst Alarm geschlagen, weil ein älteres Paar Atembeschwerden hatte“, erzählen Michael Axinger und Andreas Fleige. „Zwei Rettungswagen sind daraufhin ausgerückt, um am Ende festzustellen, dass es sich bei beiden um einen leichten Schnupfen handelte.“ Krankheitssymptome, die bei einem Hausarzt oder beim ärztlichen Bereitschaftsdienst (116117) besser aufgehoben gewesen wären.
Dieser aktuelle Fall aus der Resser Mark ist symptomatisch für einen Trend, der bei den Brandschützern hier und andernorts wachsende Besorgnis auslöst. Immer öfter werden sie mit Bagatellen behelligt, weil sich Bürgerinnen und Bürger nicht mehr selbst zu helfen wissen. Die Folge: Rasant wachsende Einsatzzahlen, hoher Zeit- und Personalaufwand und letztlich explodierende Kosten – immerhin schlägt ein Feuerwehreinsatz mit dem Rettungswagen mit rund 600 Euro zu Buche. Die Rechnung bezahlen die Krankenkassen, der Patient wird allenfalls mit einem Eigenanteil von zehn Euro zur Kasse gebeten.
Feuerwehr Gelsenkirchen: 30 Einsätze pro Tag wegen eher harmloser Wehwehchen
Schon 2021 war ein Rekordjahr, die Feuerwehr Gelsenkirchen verzeichnete mit 46.150 Einsätzen so viele wie noch nie. Das Jahr 2022 dürfte die Marke locker sprengen, wenn der Trend weiter so anhält. Da sind sich die beiden Experten einig. „Zuletzt lag unsere durchschnittliche Einsatzzahl bei 126 pro Tag, derzeit liegen wir bei 150 bis 160“, schildern Axinger und Feige das aktuelle Notrufaufkommen. Eine Steigerung von rund 20 Prozent, in der Vergangenheit lag der jährliche Zuwachs bei lediglich fünf bis sechs Prozent.
Über welche Dimensionen da gesprochen wird, zeigen andere Vergleichszahlen: Von 2014 bis 2021 hat das Einsatzvolumen der Gelsenkirchener Feuerwehr „um 38 Prozent zugenommen“. Heißt: Die Arbeit der Feuerwehr wird zunehmend zu einer Zerreißprobe, weil auch in dieser Branche es immer schwerer wird, qualifizierten Nachwuchs zu finden.
Um so schwerer wiegen da inflationäre Alarm-Szenarien wie kleinere Schnittwunden in Hand oder Finger, Nasenbluten, Atemwegsprobleme durch Husten oder Schnupfen sowie Kopf- und Gliederschmerzen, von denen die Feuerwehr berichtet. „Die Quote solcher Bagatelle-Notrufe liegt nach unserer Erfahrung bei 20 Prozent“, so die Michael Axinger und Thomas Fleige weiter. Mindestens 30 Mal am Tag rücken die Retter aus, um letztlich festzustellen, dass kein akuter Notfall vorliegt.
Was aber sind die Gründe dafür, dass die Menschen für solche vergleichsweise harmlose Probleme die Feuerwehr alarmieren?
Vollkaskomentalität: Patienten scheuen aus Bequemlichkeit lange Wartezeiten
„Wir sehen eine neue Bequemlichkeit in der Bevölkerung wachsen, eine zunehmende Vollkaskomentalität“, sagen Axinger und Fleige ohne Umschweife. Im Kern würden lange Wartezeiten gescheut, insbesondere an Wochenenden, an Mittwoch- oder Freitagnachmittagen – das gelte sowohl für den Hausarzt als für den ärztlichen Bereitschaftsdienst. Ohne Termin und erst recht bei kleineren Wehwehchen werden vorrangig akutere Fälle behandelt.
Rettungsdienst gefordert durch Demografiewandel
Aufgrund der prognostizierten Bevölkerungsentwicklung für die nächsten Jahre befürchtet die Gelsenkirchener Feuerwehr, dass die Zahl der Bagatelle-Notrufe künftig eher noch zu- als abnehmen wird. Nach Angaben der statistischen Ämter der Länder werden in fünf Altersgruppen, angefangen von zehn bis 64 Jahre, Rückgänge von fünf bis in der Spitze von knapp 25 Prozent erwartet. Letzteres betrifft die Gruppe der 19- bis 24-Jährigen. Im Gegenzug wird erwartet, dass die Altersgruppe ab 65 Jahre in ähnlichen Dimensionen größer wird.
Das ist besonders schwerwiegend, weil gerade bei älteren Menschen sich altersbedingt gesundheitliche Beschwerden häufen und sie auf Hilfe angewiesen sind. Notrufe für harmlosere Erkrankungen könnten daher ausgerechnet ihre Versorgung gefährden.
Nicht anders sieht es in der Notaufnahme eines Krankenhauses aus, wenn man oder frau sie eigenständig aufsucht. Die Kliniken sind ohnehin durch steigende Corona-Fallzahlen, hohe Krankenstände und dünner Personaldecke gebeutelt. „Und dennoch: Für viele ist es bequemer, die Feuerwehr anzurufen. Wir sind sofort zur Stelle“, so die erfahrenen Retter. „Und man kommt schneller an die Reihe, wenn der Rettungswagen vor der Ambulanz steht.“
Wie zur Bestätigung schaut Michael Axinger kurz auf sein Mobiltelefon. Eine spezielle App zeigt ihm das Einsatzaufkommen in Echtzeit an: Elf von 16 Rettungswagen sind am Donnerstag um 10.30 Uhr parallel im Einsatz.