Westerholt. Das Alte Dorf Westerholt mutet an wie ein Freilichtmuseum. Heute gehört es zu Herten. Man orientiert sich aber mehr nach Gelsenkirchen-Buer.
Dafür muss man andernorts Eintritt bezahlen: „Manchmal fühlt man sich hier schon wie im Freilichtmuseum”, sagt Clemens-August Spiekermann und weiß gleich eine Anekdote zu erzählen. „Im Sommer kommt es schon mal vor, dass, wenn man bei Kaffee und Kuchen im Garten sitzt, Besucher kommen, sich dazu setzen und einen Kaffee bestellen.” Das sei erst kürzlich wieder einer Bewohnerin des Alten Dorfes Westerholt passiert. Wie sie reagiert hat? Ganz klar: Sie hat die ahnungslosen Gäste herzlich bewirtet. Aufgeklärt hat sich das Missverständnis erst, als die Gäste bezahlen wollen.
Dönekes kann er viele erzählen. Handfestes auch. Denn eben erst hat Clemens-August Spiekermann ein Buch veröffentlicht über die Westerholter Geschichte. Vor allem, weil er dank jahrelanger Heimatforschung die Geschichte neu schreiben kann. Er hat Dokumente gefunden, die nahelegen, dass die Historie 1300 Jahre zurück reicht. Gut, ganz genau lässt sich das nicht sagen. Die Geburtsstunde könnte auch ein Jahr eher oder später gewesen sein. So ungefähr aber lässt sich die lange Geschichte belegen.
Wo die letzte Hexe im Vest Recklinghausen hingerichtet wurde
So seien die Brukterer die ersten Siedler dieser Gegend. Der germanische Volksstamm war damals auf der Suche nach einem geeigneten Ort. Entlang der Emscher habe es eine Sumpflandschaft gegeben. Die Siedler seien einem Seitenarm gefolgt und hätten dort „Holta” gegründet. „So hieß Westerholt früher, bis der heutige Name entstand, der abgeleitet ist von Holz im Westen von Recklinghausen.” Westerholt sei somit eines der frühesten Dörfer im Emscher-Lippe-Raum gewesen. Eine erste urkundliche Erwähnung findet sich 1047.
Das kleine Dorf, das geografisch über Jahrhunderte nicht über sich hinauswuchs, wartet dennoch mit einer überaus bewegten Geschichte auf. Ein spektakulärer Höhepunkt ist die Geschichte der Anna Spiekermann, der letzten „Hexe” im Vest Recklinghausen, der man im Jahr 1706 den Prozess machte – sie wurde zum Tode verurteilt, enthauptet, ihre Leichte später verbrannt. Die Namensgleichheit ist übrigens kein Zufall. „Sie ist meine Ur-Großtante.” Mit ein paar weiteren „Urs“ davor, versteht sich. Und so steht der Nachfahre auf dem alten Friedhof gleich neben dem Gemeindezentrum von St. Martinus und zeigt, wo das Grauen einst seinen Höhepunkt fand. Seit kurzem erinnert auf seine Initiative und die des Heimatvereins eine Gedenktafel an Anna Spiekermann.
Hier treffen sich die Bergleute von einst zum Klönen
„Schon ihre Großmutter wurde in Sutum als Hexe verbrannt. Darunter hatte sie Zeit ihres Lebens zu leiden.” So sei es für den Westerholter Heinrich Krampe denn auch einfach gewesen, sie der Hexerei zu bezichtigen, als sie seinem Werben nicht nachgegeben habe und er seiner Verlobten gegenüber eine plausible Erklärung gebraucht habe für den Verlust seiner Manneskraft. Ob Clemens-August Spiekermann etwas spürt von seinem Hexenblut? „Ja”, sagt er und lacht. „Ich würde heute auch als Hexer verbrannt.”
Entlang des Ostwalls geht es zum kleinen Rundgang. Wo man jetzt gehe, da sei einst ein Graben verlaufen zur Sicherung des Dorfes. Das erklärt die Pforte, die man an der Ecke zur Schloßstraße bald erreicht. „Das ist unsere letzte erhaltene Pforte. Allerdings ist das ein Nachbau.” Hier hat der „Knappenverein St. Barbara 1943” ein kleines Museum. Belebt ist es auch. Immer donnerstags am Vormittag treffen sich hier die Bergleute von einst zum Klönen.
Idyllische Kirche wird für Hochzeiten genutzt
Gleich gegenüber wird es wieder historisch: „Das ist die alte kollersche Weberei”, weiß Mechtild Hetterscheidt vom Heimatverein. Westerholt sei um 1800 der größte Gewerbesteuerzahler im Vest gewesen. Der Textilwirtschaft wegen. „Hier wurden Tücher gewebt für Klöster und Kirchen.” Aus eigenem Leinen, wie Clemens-August Spiekermann meint. „Im Westerholter Wald wurden Rott-Teiche gefunden. Dort wurden Fasern eingeweicht, damit man sie verweben konnte.”
Rechter Hand liegt nun der idyllische Biergarten des Restaurants „Alt Westerholt”. Ein paar Meter weiter steht die alte Kirche. Sie ist im Privatbesitz der Familie Graf von Westerholt. Hier finden heute auf Wunsch Hochzeiten statt und Trauerfeiern für jene, die im von Westerholtschen Friedwald beigesetzt werden. Noch eine Möglichkeit, das Bauwerk von innen zu sehen, ist, sich gut zu stellen mit Mechtild Hetterscheidt. „Wir vom Heimatverein bekommen den Schlüssel für Führungen.”
In der Gruft liegen die Grafen von Westerholt
Bevor es aber in die heiligen Hallen geht, wird die Turmruine gleich daneben betrachtet. Einstmals habe der Turm zur Kirche gehört. Das sieht man auch bei genauerer Betrachtung. Zwei steinerne Wandreliefs zeigen christliche Motive. „Die lassen sich zurückdatieren auf 1275”, weiß Clemens-August Spiekermann. Dreht man sich einmal herum, sieht man an der Kapelle einen Treppenabgang. Hier gehe es zur Gruft, erklärt Mechtild Hetterscheidt. Da dürfe man nicht rein. Der Totenruhe wegen. Hier liegen die Grafen von Westerholt. Zuletzt seien Egon 2002 und sein Sohn Otto 2010 hier bestattet worden. Die im vergangenen Jahr verstorbene Rosy liege hier nicht, erzählt die Heimatkundlerin. „Sie hat immer gesagt, sie will nicht im dunklen Keller liegen.” So fand sie im Herbst 2021 im Friedwald ihre letzte Ruhestätte.
Der kurze Blick in die eigentliche Kirche ist da fast schon nicht mehr spektakulär. Ein kleiner Raum, ein großer Altar – und über allem der heilige Sankt Martinus, der gerade seinen Mantel teilt. Ihn habe man im Westerholt schon 1310 zum Heiligen des Dorfes gemacht und ihm das Gotteshaus gewidmet.
Im Dorf kümmert man sich um seine Armen
Wieder im Freien steht vis-a-vis im Grünen die Skulptur einer feinen Dame. Das sei die „Reisende”. Clemens-August Spiekermann erzählt auch dazu gern eine (erdachte) Anekdote. „Das ist die Gräfin, die mit einer Tasche nach Paris reist, weil sie ihren Mann, den Grafen Egon, verlässt.” Des Katholizismus’ wegen habe sich das Paar nicht scheiden lassen dürfen. Apropos katholisch: In dieser Hinsicht ist das Dorf immer eine Hochburg. Bis 1870 gab es in Westerholt nicht einen evangelischen Mitbürger.
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Nun geht es weiter über die „Freiheit”. Einheimische sprächen auch von „Im Kühl”, weil hier immer ein kühles Lüftchen wehe. An der nächsten Ecke steht das einstige Armenhaus. „Wer unschuldig verarmt war, der durfte hier einziehen und wurde versorgt. Das haben die Westerholter seit jeher unter sich geregelt”, erläutert Mechtild Hetterscheidt einen sehr sozialen wie fortschrittlichen Aspekt der örtlichen Geschichte. „Es gab hier auch immer Jobs, mit denen man etwas Geld verdienen konnte.” - „Als ich ein Kind war, lebte hier eine Frau, die strickte für uns die Socken”, erinnert sich Clemens-August Spiekermann.
Wissenswertes aus dem Elsass
Ein paar Meter weiter erzählt er, es habe einst im Alten Dorf auch viele Blaufärber gegeben. Und ob man denn wisse, warum man sage, montags werde blaugemacht? „Freitags wurde mit Indigo blau gefärbt. Und montags wurden die Tücher rausgehängt. Durch die Reaktion mit der Luft wurde aus der grünen Farbe dann blau. Wieder etwas gelernt. Das denkt sich auch die interessierte Radfahrerin, die sich der Führung für einen Moment angeschlossen hat. Soviel zur Sache mit dem Freilichtmuseum.
Überall gibt es etwas zu entdecken. Auf den ersten Blick sind alles Fachwerkhäuser. Auf den zweiten aber haben sie alle ihre Besonderheit. Mal ist es ein zauberhafter kleiner Garten, mal sind es etliche rote Kletterrosen, die die Fassade zieren. „Die ersten Fachwerke wurden von Handwerkern aus dem Elsass erbaut. Mit Folgen: Sie bringen Weinbergschnecken mit. Was sie besonders attraktiv macht ist die Tatsache, dass sie auch an Fastentagen gegessen werden dürfen, weil sie kein Blut haben. „Und sie brachten das Wissen mit, warum es bei Frauen so viele Fehlgeburten gab. Das lag an den vielen Mutterkörner, die im Getreide waren”, erklärt Clemens-August Spiekermann.
Darum hat Westerholt die Gelsenkirchener Telefonvorwahl
Im Gehen fallen den beiden immer neue interessante Geschichten ein. „Wussten Sie etwa, dass im März 1878 eine Telefon-Versuchsstrecke des Deutschen Kaiserreiches von Westerholt nach Buer reichte? Das war noch vor der Einrichtung einer Fernsprechverbindung in Berlin”, fragt Mechtild Hetterscheidt. Natürlich nicht. So aber stehe es in der „Chronik des Ruhrgebietes”, einem WAZ-Buch. „Daran liegt es auch, dass wir bis heute die Gelsenkirchener Vorwahl haben.”
Weiter geht es durch das Dorf. „Haben sie das gesehen?” Der „Ureinwohner”, so übrigens bezeichnet er sich selbst, weist auf ein Schild hin. Da steht ganz groß „Hier war Goethe” und ganz klein darunter „nie”. Ein kleiner Scherz des Bewohners. Und dabei hätte man sich den alten Dichter so gut hier vorstellen können. „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein” – im Zweifel auch in fremder Leute Garten.
Kam Beethovens Jugendliebe aus Westerholt?
Lesung mit Weinverkostung
Das Buch von Clemens-August Spiekermann bietet einen Streifzug durch die Geschichte des Alten Dorfes Westerholt auf 684 Seiten. Die 3,5 Kilo Geschichte sind nur im Heimatmuseum an der Schloßstraße erhältlich, zum Preis von 39,50 Euro.Ab Juni widmet sich der Heimatverein an jedem dritten Samstag im Monat dem Buch, lädt im Rahmen der regulären Öffnungszeiten von 15 bis 17 Uhr zur Besprechung jeweils eines Kapitels ein.Die erste Ausgabe wartet zudem mit einer Weinverkostung auf. Clemens-August Spiekermann hat nämlich herausgefunden, dass Heinrich Grymhard von Westerholt um 1390 ganze 2000 Liter Wein im rheinischen Honnef kaufte. Dieses „historische Gesöff“ gebe es bis heute. Besucher können sich am Samstag, 18. Juni, einen eigenen Eindruck verschaffen.
Ein prominenter Zeitgenosse allerdings ist einst dem Dorf verbunden: Ludwig van Beethoven. Der sei als junger Mann Klavierlehrer am Hause Westerholt gewesen. Gemunkelt werde auch von einer Liebesgeschichte, weiß Mechtild Hetterscheidt. „Er hat auch ein Trio komponiert für Flöte, Fagott und Klavier für das Haus von Westerholt.” Das spiele man auf Wunsch im Heimatmuseum für Besucher ab.
Das Ende des kleinen Rundgangs ist erreicht. Immer wieder ist man im Vorübergehen Westerholtern begegnet. Mechtild Hetterscheidt und Clemens-August Spiekermann haben sie alle gegrüßt, ein paar Worte gewechselt. „Man kennt sich hier einfach”, sagen beide und schildern ein bisschen das Leben im Mikrokosmos. So gehe der Witz um, wie man Westerholter werde? Die Antwort: Gar nicht. Man werde hier geboren. Und weil Westerholt seit 1975 zur Stadt Herten gehört, gebe es, strenggenommen, ohnehin keine Ureinwohner mehr. Aber da lasse man schon mal Fünfe gerade sein. Eine Sache jedoch nimmt man hier sehr ernst: die Unabhängigkeit. „Wir schreiben bis heute auf unseren Briefkopf ,Westerholt’.“
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