Gelsenkirchen. Viele Schalker haben keine Lust mehr auf Politik – diese zwei jungen Frauen schon. Jetzt reden sie Klartext darüber, was der Stadtteil braucht.

Als sich Rojin Gökdemir mit 15 Jahren erstmalig bei der Grünen Jugend engagieren wollte, da habe sie von Politik „noch null Plan gehabt“, wie sie feststellt. Hier wurde die Deutsch-Kurdin geboren, hier ist sie aufgewachsen, hier ist sie vor zwei Jahren (damals noch als Rojin Civi) selbst als Kandidatin angetreten – also dort, wo, gemessen an der Wahlbeteiligung, einer der unpolitischsten Wahlbezirke in ganz Nordrhein-Westfalen liegt.

31,3 Prozent – nur jeder dritte Wahlberechtigte – ging zuletzt bei den Landtagswahlen vor eineinhalb Wochen in Schalke-Ost wählen. Weiß jemand wie Rojin Gökdemir, die hier zum politischen Menschen wurde, wie man die große Mehrheit der Nichtwähler motivieren könnte? Kennt so jemand noch andere Gründe für die bedenkliche Wahlbeteiligung als diejenigen, die – auch wir in der WAZ – oft versucht haben, zu erfassen?

Hohe Zahl an Nichtwählern in Schalke: „Vielen Leuten fehlt der Anschluss“

Nachdem die heute 28-jährige Gökdemir bei den Grüne-Jugend-Treffen „nur Bahnhof verstand“, weil die anderen „so hochintelligent“ daherredeten, war es bei ihr jedenfalls erstmal wieder vorbei mit der politischen Aktivität. „Ich bin damals schnell wieder ausgetreten, weil ich eingeschüchtert war“, sagt sie – und nennt damit einen Grund für die Distanz zur Politik, den aus ihrer Sicht auch heute viele Menschen aus migrantischen oder bildungsschwachen Haushalten hätten. „Ich glaube, dass viele Leute schon Interesse an Politik haben. Aber viele finden einfach nicht den Anschluss, den Zugang.“

Was Gökdemir dann später motivierte, es doch noch mal bei den Grünen zu versuchen, war die Sorge um die „Parallelgesellschaften, die immer größer wurden“, wie sie erklärt. „Dort war die Straße der Deutschen, dort die Straße der Araber – aber mich hat genervt, dass die Leute nichts miteinander zu tun hatten.“ Es seien jedoch nicht nur die einfachen Leute, die sich in ihre Komfortzonen zurückgezogen hätten, gewissermaßen seien es auch die Politiker, findet die studierte Ingenieurin. Sie bräuchten „viel mehr Mut“, um auf jene Leute zuzugehen, die nicht zu ihrem klassischem Wählerklientel gehören.

„Es braucht Politiker aus armen Verhältnissen – dann würden sie auch handeln“

In die Schalker Gesellschaft einzutauchen, das dürfte für manch einen Auswärtigen jedoch „wie ein Kulturschock“ wirken, gibt die 22-jährige, ebenfalls Schalkerin Berran Taskin zu bedenken. „Ich bin hier aufgewachsen, ich fühle mich hier wohl. Aber wenn ich aus einer Umgebung käme, wo weniger Menschen mit Migrationshintergrund leben, wo weniger Armut herrscht, dann wäre das für mich auch ein kleiner Schock hier“, sagt sie und ergänzt: „Ich lebe seit 22 Jahren in Schalke und es hat sich eigentlich nichts verbessert. Es bräuchte Politiker, die aus denselben Verhältnissen kommen – dann würden sie auch handeln.“

Viele Süd-Wahlbezirke mit geringer Beteiligung

In zehn von 34 Gelsenkirchener Kommunalwahlbezirken lag die Wahlbeteiligung bei den Landtagswahlen 2022 unter 40 Prozent.Neben dem weit abgeschlagenen Schalke-Ost (31,3 Prozent) waren dies Bulmke-Süd (38 Prozent), Horst-Süd (38,5 Prozent), Bismarck-West (38,9 Prozent), Schalke-West (38,9 Prozent), Horst-Nord (39,5 Prozent), Bulmke-Nord (39,6 Prozent), Hassel-Süd, Hüllen und Neustadt (jeweils rund 39,9 Prozent).

Auch Taskin trat vor zwei Jahren bei den Kommunalwahlen im Wahlbezirk Schalke-Ost als Kandidatin an. Für die Wähler Initiative NRW (WIN) holte sie beachtliche zehn Prozent, fast genauso viel wie ihre Konkurrentin Rojin Gökdemir von den Grünen (10,3 Prozent). „Ich denke schon, dass ich viele dazu gebracht habe, wählen zu gehen“, sagt Taskin vorsichtig.

Vor ihrer Kandidatur habe sie mit Politik eigentlich nicht viel am Hut gehabt, auch ihre Freunde und Bekannten nicht. „Auch in der Schule hat man ja sehr wenig über Politik geredet und sehr wenig politische Diskussionen geführt“, sagt die angehende Lehrerin mit türkischen Wurzeln – und regt an, dass gerade in einem Stadtteil wie Schalke viel mehr politische Begeisterung über Schulprojekte geweckt werden müsste.

Wahlbeteiligung in Gelsenkirchen: „Es geht um die Frage: Wie überlebe ich diesen Monat?“

„Ich selbst bin dann durch meinen Onkel in die Politik reingerutscht“, sagt Taskin – und spricht damit an, dass politische Vorbilder und Autoritätspersonen gerade für die vielen Migrantenhaushalte in einem Stadtteil wie Schalke besonders wichtig seien. „Das politische Bewusstsein geht stark über die Eltern, über Erwachsene. Wenn sie kein Interesse haben, ist es auch fast unmöglich, die Kinder zu aktivieren.“

Nur hätten viele Erwachsene ganz andere Probleme, ergänzt Rojin Gökdemir. „Natürlich ist es so, dass die vielen armen Leute hier vor allem im Kopf haben: Wie überlebe ich diesen Monat?“ Aufgrund der Inflation und weiter wachsenden Armut auf der einen, aber der hohen Staatsausgaben auf der anderen Seite, sei die Resignation im Vorfeld dieser Landtagswahl besonders hoch gewesen – was mitunter die weiter stark gesunkene Wahlbeteiligung erkläre. „Ich habe in meinem Umfeld ganz oft die Frage gehört: Woher kommen die ganzen Gelder? Plötzlich wird so viel in die Bundeswehr gesteckt, plötzlich wird wegen Corona so viel Geld herausgerückt. Aber ihren Einkauf können die Leute auf der anderen Seite nicht mehr bezahlen. Da fühlen sie sich einfach verarscht.“