Gelsenkirchen-Schalke. Guido Krautkrämer betreibt im Ruhrgebiet sechs Kletterhallen. Ein Gespräch über die Faszination des Kletterns und des Unangepasstseins.
Bouldern gilt als Einstiegsdroge in den boomenden Klettersport. Spätestens seit „Cliffhanger“ und „Mission Impossible 2“ kennt jeder waghalsige Männer und Frauen, die die Grenzen der Physik scheinbar aushebeln und an den schwierigsten Wänden entlang klettern. Guido Krautkrämer ist Herr über sechs solcher Standorte, einer davon befindet sich an der Gelsenkirchener Gewerkenstraße: Die „Neoliet Boulderbar“. Ein Gespräch mit einem Unangepassten, der Werbung ebenso scheut wie strenge Arbeitszeiterfassung und durchgestylte Sporttempel.
Ohne Chichi: Klettern in Gelsenkirchener Weißkaue – Halle zeugt von harter Arbeit
„Klettern ist ehrlich“, sagt Guido Krautkrämer und drückt sich in einen alten Ledersessel im Foyer, ein Schnäppchen bei Ebay. Im November 2019 öffnete die über 2300 Quadratmeter große Boulderhalle in Schalke. Die ehemalige Zechenkaue und Lagerhalle ist heute ein Kletter-Dorado, wo Jung und Alt versuchen, ohne Seil der Schwerkraft ein Schnippchen zu schlagen.
„In diesen Sport kann man sich nicht einkaufen, um Erfolg zu haben“, so der 47-Jährige weiter. Geld allein, wie etwa beim Fußball, helfe nicht weiter, sondern nur das eigene Können zähle an der Wand. „Man kämpft gegen sich selbst und nicht gegen andere“, erklärt der vierfache Familienvater den Siegeszug des Boulderns, den mit 16 Jahren ein Unfall in einem Hattinger Steinbruch dazu brachte, sich beim Deutschen Alpenverein mit der Kunst des Kletterns vertraut zu machen und der später sein Referendariat als Sport- und Erdkundelehrer seiner Leidenschaft fürs (Seil-)Klettern zuliebe hinschmiss.
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Ein Erfolgsfaktor für den individuellen Kick am Kunstberg ist für ihn die Unabhängigkeit von Zeit und Wetter. Wer spontan Sport treiben will, kann das tun, ohne Kompromisse eingehen zu müssen, beispielsweise ohne sich mit dem Team abzustimmen.
Unternehmer-Duo betreibt zwölf Kletterhallen im Ruhrgebiet und in den Niederlanden
Rund 30 Jahre später betreiben Guido Krautkrämer und der ebenso „kletterverrückte“ Niederländer Erik Jacobs insgesamt zwölf Kletter- und Boulderhallen. Das Duo sagt von sich nicht ohne Stolz, den Erfolg auch ohne „einen einzigen Artikel oder eine Annonce in einem der vielen Fachmagazine geschafft zu haben“.
Dem steilen Aufstieg gingen einige Rückschläge voraus. Typisch für den Sport und das Unternehmertum des Endvierzigers, der in Essen aufgewachsen ist. Für beides braucht man nämlich vor allem Geduld, die Bereitschaft, zu lernen und die persönlichen Grenzen zu verschieben. Technik geht dabei vor Kraft, mit Hauruck kommt man meist nicht weit nach oben. Kopfarbeit, Ausdauer und enorme Konzentration sind gefragt. Profis erkennt man deshalb an einem eleganten, kraftsparenden Stil. Weniger an dicken Muskelpaketen.
„Scheitern gehört dazu, ist eine gute Schule“, sagt Krautkrämer mit Blick auf die bis zu 4,5 Metern hohen Wände in Schalke mit all ihren bunten Tritten und Griffen sowie der weichen Matte am Boden davor. Und in Erinnerung an seinen persönlichen Werdegang.
Banken winken ab: Kein Millionenkredit für mittellosen Sport- und Erdkunde-Referendar
Anfang der 2000er-Jahre wollte er nach einem Beachvolleyballfeld an der Bochumer Uni zusätzlich noch eine Kletterwand bauen, die Hochschule lehnte sein Vorhaben ab. Ebenso die Banken, denen er dann etwas später sein Konzept vorstellte mit Klettern Geld zu verdienen. „Ich war ein mittelloser Student ohne jegliches betriebswirtschaftliches Knowhow“, sagt Guido Krautkrämer. Wer also sollte einem jungen Mann Anfang 20 schon einen siebenstelligen Kredit geben – die Kletterwände sind damals wie heute mit weit über 100.000 Euro je nach Größe ein riesiger Kostenfaktor.
Der Niederländer Eric Jacobs tat es, der nannte damals bereits drei Hallen sein Eigen. In ihm fand Krautkrämer einen Seelenverwandten, der „verfahrene Strukturen und Denkweisen ebenso hasste“ wie er selbst, der auch lieber sein eigener Chef sein wollte, als im Job und im Leben fremdbestimmt zu werden.
Auf Constantin in Bochum-Riemke fand Guido Krautkrämer 2005 eine „alte abgerockte Maschinenhalle mit riesiger Pumpanlage“, die er zu großen Teilen selber umbaute und zu einer Kletterhalle umfunktionierte. Zusammen mit seiner Frau Anke und seinen zwei Kindern wohnte er damals direkt in der Halle über einem Büro, der Beschreibung nach eher eine Holzhütte denn ein Heim nach üblichen Maßstäben.
Kletterhallen taktisch klug gestreut im Revier – Maßnahme gegen Raubtierkapitalismus
Trotzdem, der Stein kam ins Rollen. Zu Beginn der 2010er-Jahre betrieb Krautkrämer drei Hallen, vorwiegend auf das Klettern am Seil ausgelegt. Was durchaus seine Anhänger fand, aber als „special interests“ nur eine Nische und nicht dauerhaft auskömmlich die Kasse füllte. „Ich musste mich daher umorientieren, auch, um nicht Gefahr zu laufen, von größeren Anbietern geschluckt zu werden oder Pleite zu gehen“, erklärt der 47-Jährige. Schon damals hatte er ein aufmerksames Auge auf den aufkommenden Boulder-Boom, nicht zuletzt öffentlichkeitswirksam vorangetrieben durch Fernsehformate wie Ninja Warrior, die in den USA und in Europa gleichermaßen gut laufen und ein Millionen-Publikum finden.
„Am Markt geht es zu wie unter Raubtieren“, ist eine Erkenntnis, die der Unternehmer auch ohne BWL-Studium schnell verinnerlicht hat. Deshalb hat er sich früh schon konzeptionell breiter aufgestellt. An den mittlerweile sechs Standorten Bochum (2x), Oberhausen, Mülheim, Essen und Gelsenkirchen finden Kinder, Jugendliche und Erwachsene verschiedene Angebote zum Klettern, mal mit Seil, mal ohne. Klettern und Bouldern sind dabei voneinander getrennt, wohlweislich fehlen den Hallen ein integriertes Fitnessstudio, ein Parcoursbereich oder eine ausgeprägte Gastronomie. Wer in seine Hallen kommt, soll schließlich hauptsächlich an der Wand (ab-)hängen, statt an einer Bar stundenlang zu chillen.
Krautkrämers Standorte decken alle Himmelsrichtungen im Revier ab, für den Kletterfan ein Faustpfand und „eine Investition in die Zukunft“, weil die Konkurrenz nicht schläft und der Verdrängungswettbewerb denen der Café- und Baumarktketten gleicht: Wo der eine eröffnet, ist der Mitbewerber nicht weit. Daher ist Halle Nummer sieben in Essen bald auch schon Realität, um das Territorium abzustecken.
Reduktion auf die Kernkompetenz, das Klettern, diese Maxime leitet Guido Krautkrämer. Deshalb verströmt die alte Weißkaue in Schalke optisch weiter den Geist harter ehrlicher Arbeit. Auf ein modernes Innendesign wird bewusst verzichtet, beim beschwerlichen Weg nach oben schaut man/frau auf eine Hallendecke, an der vor kurzem noch die Kleidung der Bergleute an Ketten zu baumeln schien. Passt zu einem wie Krautkrämer, der schon mal das Heck zweier Wohnmobile heraussägte, um die Wagen miteinander zu verbinden – als Wohnung für seine Frau und die Kinder.
Boulderbar-Chef mit 120 Mitarbeitern: Du statt Sie, keine Werbung, keine Stempeluhr
Anzeigen und Briefkasten-Flyer sind beim Chef ebenso verpönt wie Arbeitszeiterfassung. „Jeden Euro, den ich für Werbung ausgebe, müsste ich doch beim Eintritt wieder reinholen“, begründet der unprätentiöse 47-Jährige in T-Shirt und Sporthose den Schritt. Geld, das er lieber in neue Wände oder fachkundige Mitarbeiter investiert, die laufend neue Routen entwerfen, an denen Kletterer ebenso viel Nervenkitzel wie körperliche Herausforderung finden.
120 Mitarbeiter beschäftigt Guido Krautkrämer heute, viele kennt er noch aus Kindertagen. Man ist per Du, eine ausgeprägte Hierarchie gibt es nicht. Bei Geschäftsterminen fährt der 47-Jährige mit einem gebrauchten Dacia vor. Teambesprechungen finden im laufenden Betrieb statt, als Sitzplatz hält nicht selten der Boden zwischen Sofa und Sessel her. Und wer verhindert ist oder früher wegmuss, weil die Kinder krank sind oder der Handwerker vor der Tür steht, der ist eben nicht da. Da reicht ein Zuruf.
Öffnungszeiten und Preise
Die „Neoliet“-Boulderbar an der Gewerkenstraße 28 verfügt über 180 Boulder. Zwei separate Hallen mit Fokus auf Familien und Kinder sowie auf sportlich ambitionierte Erwachsene erstrecken sich auf über 2300 Quadratmetern. Kontakt: 0234 5200 9841.Öffnungszeiten: montags, mittwochs, donnerstags und freitags von 12 bis 22 Uhr sowie dienstags, samstags und sonntags nebst Feiertagen von 10 bis 22 Uhr.Kosten: Erwachsene zahlen 11,50 Euro, ermäßigt 10,50 Euro. Kinder und Jugendliche unter 14 Jahren zahlen 7,50 Euro. Kletterschuhe zum Ausleihen kosten 3 Euro. Rabatte für Gruppen, Familien und Menschen mit einer Behinderung sind möglich.
Warum Guido Krautkrämer das so handhabt, hat viel damit zu tun, was das Klettern ausmacht: „Klettern bedeutet, sich aufeinander blind zu verlassen“, sagt der Selfmade-Unternehmer. Die Notwendigkeit, sich vertrauensvoll zu verhalten, limitiere den Sport. Und damit die Menschen, die dafür geeignet seien. „Einer klettert in der Wand, der andere sichert ihn mit dem Seil.“ Und so ist es keine Überraschung, dass der 47-Jährige, der heute in Krefeld lebt, seine Entscheidung über eine Anstellung schon mal nach einem gemeinsamen Kletter-Camp in Frankreich trifft, wo er potenziellen Kandidaten am Fels schult und dabei auf den Zahn fühlt.
Wo sieht sich der Kletterfan in zehn Jahren? „Gute Frage“, sagt Krautkrämer lächelnd und antwortet: „Da, wo ich jetzt bin und bestimmt nicht in München oder Hamburg – ich brauche nicht mehr.“ Ob er mit seinem Unternehmenskonzept erfolgreich bleibe, entscheide ohnehin der Kunde mit seinen Händen und Füßen und nicht er. Insofern, „alles auf sich zukommen lassen“ – wie an der Bergwand.