Gelsenkirchen. Drastische Folgen durch den Ukrainekrieg fürchtet die Gelsenkirchener Wirtschaft. Die IHK-Einschätzung zu Import, Export und Energieversorgung.
Steigende Energie- und Rohstoffpreise bewerteten die Firmen in der Emscher-Lippe-Region im Januar ebenso wie den wachsenden Fachkräftemangel als größte Konjunkturrisiken. Die Standardabfrage für den Elix, den Emscher-Lippe-Index als regionales Konjunkturbarometer, bekommt durch den Krieg in der Ukraine eine dramatische Wende. Der Tenor: Die wirtschaftlichen Folgen seien zwar im Detail noch nicht absehbar, doch „sie werden auf jeden Fall drastisch“. In ihrer Bewertung sind sich Experten des S-Private Banking der Sparkasse in Gelsenkirchen und der IHK einig.
Gelsenkirchener Industrie ist einer der großen Öl-Abnehmer in NRW
„Frieden ist für wirtschaftliche Entwicklung die Grundvoraussetzung“, sagt Jochen Grütters, stellvertretender Hauptgeschäftsführer und Leiter des Standorts Emscher-Lippe der IHK Nord Westfalen in Gelsenkirchen. Nun habe Russland mit seinem Überfall auf die Ukraine die internationalen Beziehungen über Nacht zerstört. Die Unsicherheit in Kreisen der Wirtschaft sei groß. Es stehen viele Fragen im Raum, auf die es momentan keine Antworten gibt. „Können Maschinen geliefert werden, die bereits gebaut und bezahlt sind? Wenn ja, wie? Können Transportrisiken noch abgesichert werden?“, so Grütters. Offen sei auch, wohin Sanktionsmaßnahmen führen und wie sich Gegenmaßnahmen auswirken würden. Beim Import ist die lokale Wirtschaft durchaus abhängig, vor allem die Petrochemie.
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Gut zehn Prozent des Erdgases in NRW wird von der Industrie in der Emscher-Lippe-Region verbraucht, beim Energieverbrauch liegt Gelsenkirchen mit seinen Raffinerie- und Chemiestandorten und einem Verbrauch von 77 Petajoule (1 Petajoule sind eine Billiarde Joule, die Einheit wird bei großen Energiemengen verwendet) laut IHK bundesweit unter den Top Ten. Aus Sicht der Wirtschaft seien nun seitens der Bundesregierung „schnelle Entscheidungen nötig, um bei Strom- und Energiepreisen gegenzusteuern“, so Grütters. Zudem gelte es, Kontakte zu anderen Lieferländern zu intensivieren. „Das muss alles schneller gehen, als man es sich bisher vorgestellt hat“, sagt Grütters und fordert: „Diese Situation muss zum Turbo für die heimische Wasserstoffwirtschaft werden.“
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Rund 100 Firmen in der Emscher-Lippe-Region haben wirtschaftliche Export-Kontakte mit Russland, 60 mit der Ukraine. In Gegenrichtung sind es etwa 165 und 30. Gesamtwirtschaftlich ist der Export in beide Länder nicht bedeutsam. Angesichts eines Gesamtvolumens von 6,6 Milliarden Euro entfallen lediglich 130 Millionen Euro (2 Prozent) auf Russland und 25 Millionen Euro (0,4 Prozent) auf die Ukraine. Beim Import, hat die IHK hochgerechnet, liegt der Gesamtwert in der Emscher-Lippe-Region deutlich höher – bei rund 8,7 Milliarden Euro – auch als Folge des Rohstoffbedarfs. „59 Prozent aller Importe aus Russland beziehen sich auf Öl und Gas“, rechnet Grütters, wichtig seien aber auch Metalle, Mineralölerzeugnisse und Kohle.
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Schon vor dem Krieg waren internationale Handelsbeziehungen gestört – eine Folge der Lockdown- und Pandemiezeit. „Ein zentrales Hemmnis sind Störungen in den Lieferketten“, so Martin Westrich, Geschäftsführer der S-Private Banking Gelsenkirchen GmbH. 87 Prozent der befragten Unternehmen berichten von Lieferschwierigkeiten, darunter 26 Prozent „in erheblichem Umfang“. Infolgedessen seien fast alle für den Elix befragten 150 Betriebe (95 Prozent) von Preisanstiegen bei Rohstoffen, Vorprodukten oder Waren betroffen, 61 Prozent sogar von erheblichen Steigerungen.
Wirtschaft rechnet mit zahlreichen Flüchtlingen aus der Ukraine
„Die russische Invasion ist eine Tragödie für das ukrainische Volk und eine Bedrohung für den Frieden in Europa. Und sie ist natürlich auch Gift für die Wirtschaft. Die Verluste an den Börsen sprechen Bände“, sagt S-Private Banking-Geschäftsführer Michael Hottinger.
Firmen in der Region machten sich große Sorgen um Beschäftigte und Geschäftspartner in der Ukraine. Und sie stellen sich laut Grütters auf eine wachsende Zahl Flüchtlinge ein. „Wir müssen uns darauf vorbereiten, wie diese Menschen aus der Ukraine im Ausbildungs- und Arbeitsmarkt integriert werden können. Wenn die Situation eintritt, sollten wir gut vorbereitet sein.“