Gelsenkirchen. 479 Corona-Tote gibt es in Gelsenkirchen bereits. Einer von ihnen ist Dr. Arnold Greitemeier, ein bekanntes Gesicht hinter einer anonymen Zahl.

Mindestens 479 Menschen sind seit Beginn der Pandemie in Gelsenkirchen bisher bereits an oder mit Corona gestorben. Eine hohe Zahl, aber eben nur eine Zahl. Hinter dieser Zahl aber stehen Menschen, Lebensgeschichten, trauernde Familien.

Familien, die einen lieben Angehörigen (nicht nur) zu Weihnachten, dem Fest der Familie, schmerzlich vermissen. Wir möchten stellvertretend für alle Betroffenen einem Covid-19-Verstorbenen und seiner Familie ein Gesicht geben. Es ist ein Gesicht, das zu seiner Lebzeit viele Gelsenkirchener kannten und schätzten: Es ist die Geschichte vom unfassbar schnellen Sterben des Arztes für Innere Medizin und Diabetologie Dr. Arnold Greitemeier.

Rückblick auf die Tage des Bangens und Abschiednehmens

Der 71-Jährige, der bis zuletzt in seiner Praxis in Erle arbeitete, starb binnen weniger als drei Wochen an den Folgen einer Covid-19-Infektion, die er sich bei der Arbeit zugezogen haben dürfte. Seine Witwe, Gabriele Greitemeier, und seine Tochter Katharina Greitemeier haben sich auf Bitten der WAZ bereit erklärt, von jenen schweren Tagen des Bangens und des Abschiednehmens zu erzählen, aber auch von dem leidenschaftlichen Mediziner und Familienmenschen Arnold Greitemeier.

In diesem Gespräch dauert es nur wenige Sätze, bis die ersten Tränen fließen. Still, fast verstohlen, nicht Mitleid heischend. Sieben Monate sind nicht lange, wenn es um die Verarbeitung des Todes eines Menschen geht, der bis kurz vor seinem Tod aktiv im Leben stand. Die Familie trauert gar um zwei engste Angehörige, die in diesem Jahr verstorben sind. Gabriele Greitemeiers Mutter verstarb vier Wochen vor ihrem Mann, Ende März, jedoch nicht an Corona. Die 92-Jährige verstarb in ihrem Haus in Rotthausen wohl an Altersschwäche.

Tochter Katharina(l.), ihr Bruder sowie ihre Mutter Gabriele Greitemeier konnten den Vater und Ehemann bis zuletzt begleiten, gemeinsam Abschied nehmen. Für diese in Pandemiezeiten nicht selbstverständliche Möglichkeit ist die Familie sehr dankbar. Das habe ihnen sehr geholfen, betonen sie.
Tochter Katharina(l.), ihr Bruder sowie ihre Mutter Gabriele Greitemeier konnten den Vater und Ehemann bis zuletzt begleiten, gemeinsam Abschied nehmen. Für diese in Pandemiezeiten nicht selbstverständliche Möglichkeit ist die Familie sehr dankbar. Das habe ihnen sehr geholfen, betonen sie. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Familie pflegte bis kurz vor der Erkrankung die Großmutter rund um die Uhr

In ihrem letzten Lebensmonat, in dem sie das Bett nicht mehr verlassen konnte, wurde die alte Dame rund um die Uhr versorgt und gepflegt von der ganzen Familie. Eine Verlegung in ein Pflegeheim kam für die Angehörigen nicht in Frage. Und so war die ganze Familie am Ende ihrer Kräfte, als die alte Dame kurz vor Ostern für immer die Augen schloss.

Kein einziger Praxismitarbeiter hat sich angesteckt

Das Osterwochenende verbrachte das Ehepaar Greitemeier denn auch erschöpft daheim. Ehefrau Gabriele hütete das Bett. „Das kannte ich ja von mir. Wenn ich eine extreme Stresssituation hinter mir hatte, dann reagierte mein Körper schon immer mit so großer Erschöpfung, dass ich mich ins Bett legen musste. Nach zwei Tagen dann ging es mir aber deutlich besser“, erklärt sie, warum sie dem keine Bedeutung zumaß. Unter starkem Husten oder Geschmacksverlust litten beide nicht, beide hatten sich stets sorgfältig vor Corona-Viren geschützt, mit Handhygiene, Masken und Abstand. Niemand im Praxisteam erkrankte an Covid-19, auch privat war Greitemeier extrem vorsichtig. Den 70. Geburtstag im ersten Pandemiejahr hatte der Familienmensch ohne die beiden Enkel gefeiert, Abstand gehalten, um niemanden zu gefährden.

Ärger über Chaos bei Impfstofflieferungen für die Arztpraxen

Doch nach dem Tod der Schwiegermutter achtete Arnold Greitemeier nicht auf sich und seine Erschöpfung, sondern kümmerte sich weiter um seine Patienten. Wartete verzweifelt auf den Impfstoff für seine Patienten, der zum Start der Impfungen in den Hausarztpraxen nur verzögert geliefert wurde. Er hatte schon die Liste seiner betagten Patienten fertig, die daheim lebten und daher in der ersten Impfwelle durchs Raster gefallen waren. Sie wollte er als erste Impfen, wie er der WAZ Gelsenkirchen noch am 6. April schilderte. Doch viele Schutz-Impfdosen konnte er nicht mehr verteilen. Nur eine Woche später begann der Kampf gegen die Corona-Viren in seinem Körper, den er am 24. April verlor. [Zum Thema: Chaos und Frust zum Impfstart in Gelsenkirchener Arztpraxen]

„Als wir zu ihm durften wussten wir, dass er sterben würde“

Nach sehr kurzem Aufenthalt im Bergmannsheil Buer war er wegen einer dramatischen Verschlechterung seines Zustands per Hubschrauber ins Universitätsklinikum in Münster verlegt worden. „In der ersten Woche habe ich jeden Morgen dort angerufen, nachmittags rief immer der Arzt zurück. Als wir Arnold in der zweiten Woche dann besuchen durften, da wussten wir, dass er sterben würde“, erinnert sich die 69-Jährige pensionierte Englisch- und Kunstlehrerin. „Aber dass wir zu ihm durften, das war für uns sehr wichtig, dafür waren wir sehr dankbar. Die Möglichkeit hatten ja nicht alle“; betont Tochter Katharina.

Dankbar für die Möglichkeit, Abschied zu nehmen

„Wir konnten uns mit ihm verständigen, auch wenn er nicht sprechen konnte. Er war die ganze Zeit bei Bewusstsein, ansprechbar. Aber auf die schwere Lungenentzündung hatte sich noch eine Infektion gesetzt, deshalb war er auch intubiert“, schildert Katharina. Zuletzt kam auch der Sohn aus Berlin nach Münster, im Gepäck die aufgezeichneten Herztöne des (mittlerweile gesund geborenen) dritten Enkelkindes.

So schwer der Abschied war, so klar war für Ehefrau Gabriele, dass der Tod angesichts der schweren Schädigungen für ihren Mann eher eine Erlösung war. „Er hätte nie mehr gesund werden, sein Leben führen können. Das wäre für einen Menschen wie ihn nur eine Qual gewesen.“

Trost durch große Anteilnahme von Kollegen, Patienten und Freunden

Was der Familie ein wenig Trost gab, war die große Anteilnahme von Kollegen, Freunden und selbst zahlreichen für die Familie Fremden, die den Verstorbenen sehr geschätzt hatten wegen seiner Aufrichtigkeit und seines aufopferungsvollen Engagements.

Der Gelsenkirchener Kollege und Präsident der Ärztekammer Dr. Hans-Albert Gehle nannte Greitemeier im Nachruf einen „außerordentlich verlässlichen und wirklichen Freund. Er genoss große Sympathien und wir alle werden ihn sehr vermissen.“ Gehle betonte Greitemeiers ärztliche Solidarität, seine Bemühungen um die Wahrung übergeordneter Interessen. Auch als Gesprächspartner für Journalisten zeigte sich der gebürtige Gelsenkirchener stets zugewandt, frei von jedem Dünkel und interessiert an klaren Erläuterungen im Dienst der Gesundheit seiner Mitmenschen.

Die Liste von Greitemeiers ehrenamtlichen Aktivitäten ist lang. Neben dem Marburger Bund engagierte er sich unter anderem für den ärztlichen Notdienst und von der Pharmaindustrie unabhängige Weiterbildung. Als Vorsitzender des Ärztevereins in Buer organisierte er die Feiern zum 100-jährigen Bestehen des Vereins. Wegen Corona mussten die vorbereiteten Feierlichkeiten mehrfach abgesagt werden. Sie haben bis heute nicht stattfinden können.

Dr. Arnold Greitemeier wurde 71 Jahre alt, er ist einer von 479 Gelsenkirchenerinnen und Gelsenkirchenern, die an oder mit Corona gestorben sind.