Gelsenkirchen-Altstadt. Talkrunde sucht Wege gegen einen Pflege-Notstand in Gelsenkirchen. Ein Ziel: Das Berufsbild soll aus seiner falschen Opferrolle gehoben werden.
Sie genießen ein hohes Ansehen, aber bleiben vielfach nicht lange in ihrem Job, Hintergründe für den Mangel an Fachkräften in der Pflege. „Klartext statt Klatschen“ hatte sich eine Talkrunde für Gelsenkirchen vorgenommen.
Beispiele für die Überlastung durch geringe Personalausstattung gab es viele und drastische, immer wieder jedoch auch Perspektivwechsel. Denn die Vergütung für Pflegefachkräfte in und nach der Ausbildung sei zumindest so gut, „dass kaum einer deswegen wechselt“. Allerdings kämen auf einen Bewerber auch bis zu zehn freie Stellen, ob bei privaten Trägern oder Verbänden, und es würden bis zu 240 Tage zur Neubesetzung einer Stelle vergehen.
Die Verweildauer auf einer Stelle mit rund elf Jahren, bei Pflegehelfern rund neun Jahren, spreche auch für den immensen Druck und Stress, den das Personal erlebe. Das gelte für fast alle Bereiche. Würden externe Kräfte, praktisch Leiharbeiter, dazu geholt, stünden die in der Personalplanung teilweise sogar besser da. Und wenn sich die Beschäftigten in der Pflege zu einem Wechsel entschieden, wechselten sie meist gleich die Branche.
Als Stärkung für die Pflegekonferenz in Gelsenkirchen
„Die Pflege ist nicht emanzipiert, die Berufe müssen weg vom Bild des Opfers“, forderte Claudius Hasenau als Gastgeber des Abends und aus Sicht des Ambulanten Pflegedienstes APD, einem der größten privaten Dienstleister in der Umgebung. „Die Berufe sind schließlich einfach toll, sinnstiftend und krisensicher“, widersprach er einer gängigen „Jammerkultur“. „Warum gehen die nicht auf die Straße, wie wir das in anderen Berufen während des Strukturwandels erlebt haben? Diese Jobs sind schließlich wichtig für die Gesellschaft.“
„Der Beruf ist besser als sein Ruf“, bekräftige auch Thorsten Klute, Vorstandsvorsitzender der Awo in Ostwestfalen-Lippe, „aber die Mangelsituation bei den Fachkräften verschärft sich. Wir bewegen uns in einer Spirale.“
„Nischenthema kommt in die Öffentlichkeit“
Eine Krankenschwester aus dem Publikum, die auch nach dem Renteneintritt nach eigener Schilderung noch in der ambulanten Pflege weiter arbeitet, unterstrich vehement: „Ich liebe den Beruf heiß und innig, aber wir müssen weg vom Minutentakt, der vorausgesetzt wird, und wieder mehr Menschlichkeit im Umgang möglich machen, gerade in der ambulanten Pflege.“
Die Schere klafft
Unverständnis und Kritik riefen aktuelle Beispiele hervor. So seien in Gelsenkirchen auch durch die Pandemie etwa die Pflegeheime zurzeit nicht voll belegt, die Folge: Die Kostenträger zahlten auch nicht voll, trotz gleichbleibenden Personalstands.
Neue Arbeitskräfte könnten daher gerade nicht für die nächste Zeit eingeplant werden. „Sie kriegen einen 30-Stunden-Vertrag, befristet auf ein Jahr“, berichtete die Pflegepädagogin Ulrike Meisel.
Karl-Martin Obermeier, Moderator des Abends, und Markus Töns, Bundestagsabgeordneter der SPD, setzten sich mit Nachdruck dafür ein, in Gelsenkirchen ein „Bündnis für gute Pflege und Betreuung“, so der Arbeitstitel, ins Leben zu rufen. Das könne die schon existierende Gelsenkirchener Pflegekonferenz stärken und mehr Beteiligte aus dem weiten Feld der ganz unterschiedlichen Pflegesektoren „mit an einen Tisch bringen“. Entlastungen für pflegende Angehörige, allein schon beim Pflegegeld, gehörten sicher mit zu den Rahmenbedingungen, die außerdem reformiert werden müssten.
Chance für Jugendliche und Zuwanderer
Jugendliche ohne Schulabschluss oder junge Zuwanderer, „Menschen, die Interesse für die Arbeit in der Pflege haben, aber keinen Zugang“, meinte Töns, könnten so eine Perspektive bekommen. Dieser „Weg ins Leben“ über den sozialen Arbeitsmarkt könne zumindest einen Baustein gegen den sich abzeichnenden, massiven Pflegenotstand darstellen. Auch in der Politik sei die Pflege immer noch ein „Nischenthema“. „So aber kommt das Thema in die Öffentlichkeit“, schloss er.