Gelsenkirchen. Housing First vermittelt Wohnungen mit unbefristetem Mietvertrag an Obdachlose in Gelsenkirchen. So wagt der erste Mieter nun den Neustart.

Wenn Jürgen Schmidt* von dem erzählt, was ihn bald erwartet, von seinem neuen Leben, dann bekommt seine Stimme etwas Hoffnungsvolles. Es steht ihm ja noch so viel bevor: Eine Zukunft, mit einem Dach über dem Kopf, seine „eigenen“ vier Wände, für die er am 1. September die Schlüssel bekommen hat. Jürgen Schmidt ist der erste Langzeit-Wohnungslose Gelsenkirchens, der mit Hilfe des Projektes „Housing First“ in dieser Stadt eine Wohnung mitsamt unbefristetem Mietvertrag bekommen hat.

Housing First: So finden Obdachlose den Weg in ein neues Leben

Und Jürgen Schmidt hat Glück gehabt. Er ist nun Teil einer großen Idee, die auf den Gelsenkirchener Arzt Dr. Helmut Wagner zurückgeht. Wagner war Zeit seines Lebens als Arzt tätig, fühlte sich dieser Stadt stark verbunden – und war angetrieben von dem Wunsch, Menschen in Not zu helfen. Zum Gedenken an ihn wurde die Dr.-Helmut-Wagner-Stiftung gegründet. Mit dem Projekt Housing First Gelsenkirchen fördert die Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Paritätischen Gelsenkirchen den Erwerb von Wohnraum für von Wohnungslosigkeit betroffene Menschen, um ihnen neue Perspektiven zu geben.

Die Menschen hinter Housing First: Wolfram Schulte (Soziales Zentrum), Sven Lütkehaus (Geschäftsführer Paritätischer Gelsenkirchen) und Isabel-Marie Höppner (Vorstand Stiftung Gemeinsam Handeln) übergeben symbolisch den ersten Schlüssel. Am 1. September hat der erste Obdachlose den richtigen Schlüssel für eine der Wohnungen, die die Dr.-Helmut-Wagner-Stiftung erworben hat, bekommen.
Die Menschen hinter Housing First: Wolfram Schulte (Soziales Zentrum), Sven Lütkehaus (Geschäftsführer Paritätischer Gelsenkirchen) und Isabel-Marie Höppner (Vorstand Stiftung Gemeinsam Handeln) übergeben symbolisch den ersten Schlüssel. Am 1. September hat der erste Obdachlose den richtigen Schlüssel für eine der Wohnungen, die die Dr.-Helmut-Wagner-Stiftung erworben hat, bekommen. © FUNKE Foto Services | Michael Korte

Das Projekt, es soll eine Ergänzung, ein komplementäres Angebot zu den Hilfsangeboten von Stadt und anderen Wohlfahrtsverbänden sein. So wollen die Menschen hinter Housing First ihr Wirken auch sehen. „Es ist ein zusätzlicher Baustein, der für bestimmte Personen passender ist“, erklärt Wolfram Schulte, Projekt-Verantwortlicher von Housing First Gelsenkirchen.

Oft sind es gerade die Menschen, für die andere Unterbringungsformate durchfallen. Wenn etwa Gruppensituationen für einige der Menschen ohne Obdach schwierig sind, steuern sie eben nicht die Notschlafstellen an, sondern bleiben lieber auf der Straße. Ohne Perspektive.

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Jürgen Schmidt ist gezeichnet, von einem Leben ohne Halt, ohne Obdach. Es waren die persönlichen Schicksalsschläge, die ihn dort hin gebracht haben, wo er bis vor kurzem noch stand: in die Wohnungslosigkeit. Er musste nie unmittelbar auf der Straße leben, kam immer irgendwie unter, sei es bei Familienangehörigen oder anderswo. Der 59-Jährige wollte nie in die bekannten Männerübernachtungsstellen, zu groß war die Angst, des Nachts von den anderen beklaut zu werden. Und dann ist da noch seine Vergangenheit im Gefängnis. Und doch: Es geht an diesem Nachmittag nicht um seine Taten, sondern vielmehr um das, was seine neue Lebenssituation mit ihm macht. [Lesen Sie auch:So sollen Gelsenkirchener Obdachlose an die eigene Wohnung kommen]

Heute sagt der gebürtige Gelsenkirchener über seine neue Wohnung, die irgendwo auf Gelsenkirchener Stadtgebiet liegt: „Das ist ein Neuanfang und ich bin sehr glücklich darüber.“ Die Freude über sein neues Zuhause wird deutlich, wenn man ihn fragt, worauf er sich am meisten freut: „Das ist mein Reich, hier kann ich die Tür einfach zu machen.“ Schon bald wird er seine Wohnung einrichten, „aber bloß nicht zu voll packen, das will ich nicht.“

Gelsenkirchener Obdachlosen wertschätzend und auf Augenhöhe entgegentreten

Mittlerweile hat die Dr.-Helmut-Wagner-Stiftung drei Wohnungen in Gelsenkirchen gekauft, es sollen weitere hinzu kommen. Ganz einfach gestaltet sich die Suche nach passenden Objekten aber nicht. Wohnungen dieser Größe sind rar, die Konkurrenz ist groß. Bei allem Handeln ist immer wichtig: „Wir wollen den Menschen wertschätzend und auf Augenhöhe entgegentreten“, berichtet Wolfram Schulte. Demnach kommen für bei Housing First auch nur Wohnungen in Frage, „in die wir selber einziehen würden“.

Kontakt zu den Obdachlosen über hiesige Organisationen

Die Arbeit von Housing First Gelsenkirchen basiert auch auf den Erfahrungen, die der Verein „Soziales Zentrum Dortmund“ bereits gemacht hat. Der Verein, für den Wolfram Schulte tätig ist, hatte zuvor schon obdachlosen Menschen in Dortmund Wohnraum vermittelt. „Wir haben in Dortmund sehr gute Erfahrungen gemacht“, kann Schulte berichten.

Der Kontakt zu den Gelsenkirchener Obdachlosen wurde in Zusammenarbeit mit den in der Stadt tätigen Vereinen und Verbänden – wie etwa dem „Arzt mobil“ oder „Gelsenkirchen packt an – Warm durch die Nacht“ – hergestellt. In den vergangenen Monaten war eine Projektmitarbeiterin damit beschäftigt, die Stadt zu erkunden und eben Kontakt zu den verschiedensten Stellen aufzunehmen.

Es gibt jedoch einige Kriterien, die der neue Wohn-Standort erfüllen muss: „Es muss für unsere Klienten möglich sein, Abstand von der Szene zu bekommen“, führt Schulte an. Zudem müsse beispielsweise der ÖPNV in Form von Haltestellen leicht erreichbar sein, hinzu komme eine gewisse Zentralität. Kurzum, gefragt ist: „ein ganz normales soziales Umfeld, das ein bisschen soziale Kontrolle hat“, so Schulte weiter.

Die Wohnungen für die Obdachlosen sind maximal 50 Quadratmeter groß

Maximal 50 Quadratmeter ist die neue Welt für Obdachlose groß, anderthalb Zimmer, deren Nutzung an Transferleistungen gekoppelt ist. Die Mietverträge sind ohne vorherige Prüfung der Wohnfähigkeit unbefristet – im besten Falle dient die Housing-First-Wohnung als eine Art Sprungbrett für die Menschen, als Möglichkeit, sich weiterzuentwickeln. Zusätzlich steht das Angebot von wohnbegleitenden Hilfen. Immer ist dabei ein Ziel im Vordergrund: Wohnungslosigkeit soll nachhaltig und dauerhaft beendet werden.

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Neben Housing First gibt es in der Stadt noch weitere Angebote für obdachlose Menschen. Seit mehr als 20 Jahren arbeitet die Zentrale Fachstelle für Wohnungsnotfälle (ZFW) in diesem Gebiet, gemeinsam mit Kooperationspartnern der Gelsenkirchener Wohnungslosenhilfe. Leitgedanke der ZFW sei die „angemessene und dauerhafte Versorgung aller Wohnungsnotfälle mit Normalwohnraum“ heißt es seitens der Stadt.

In Zahlen bedeutet das: In den Jahren 2015 bis 2020 konnten im Jahresschnitt 77 Haushalte mit 105 Personen aus den städtischen Obdach-/ Wohnungslosenunterkünften in so genannten Normalwohnraum vermittelt werden. Ein tieferer Blick in die Zahlen, zusammengetragen von der Stadt, zeigt, dass etwa im Jahr 2019 140 Menschen eine neues Dach über dem Kopf bekamen, im Jahr 2020 117 Menschen.

Das Projekt „Probewohnen“ unterhält in Gelsenkirchen sieben Wohnungen

Hinzu kommt noch das Projekt „Probewohnen“, bei dem Caritasverband Gelsenkirchen und die Gelsenkirchener gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft schwer zu vermittelnde obdach- und wohnungslose Menschen mit sozialer Begleitung in einer eigenen Wohnung mit eigenem Mietvertrag unterbringen. Derzeit würden, so die Stadtverwaltung, in diesem Projekt sieben Probewohnungen unterhalten, wobei ganz aktuell eine Ausweitung auf zehn Wohnungen geplant ist. „Durch die bis zu 18 Monate andauernde soziale Begleitung erhalten 85 Prozent der Betroffenen einen eigenen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum“, so Stadtsprecher Martin Schulmann. [Lesen Sie auch:So geht es Gelsenkirchens Obdachlosen im Corona-Winter]

Bei Housing First Gelsenkirchen planen die Verantwortlichen, mit ihren Wohnungen in den niedrigen zweistelligen Bereich zu gehen, wie Wolfram Schulte ausführt. Nach Jürgen Schmidt stehe schon der nächste Wohnungslose in den Startlöchern, bereit, ein neues Leben zu beginnen. Das will auch Jürgen Schmidt: Von seinem alten Umfeld, seiner Vergangenheit, von den Menschen, die einst mit ihm dieses alte Leben teilten, „will ich nichts mehr wissen“, sagt er. Sein Blick richtet sich nach vorn, auf sein neues Leben, eine neue hoffnungsvolle Zukunft in der eigenen Wohnung.

* Name von der Redaktion geändert, der richtige Name ist der Redaktion bekannt