Gelsenkirchen-Ückendorf. Jugendämter suchen mitunter händeringend nach Pflegefamilien. Ein Gelsenkirchen Paar hat zwei Kinder aus schwierigen Verhältnissen aufgenommen.

Zwei Familien haben die dreijährige Nina* abgelehnt. Das kleine Mädchen ist im Alter von einem Jahr vom Jugendamt in Obhut genommen worden. Nina hat einen besonderen Förderbedarf und benötigt Therapien, bei ihr besteht der Verdacht auf das fetale Alkoholsyndrom (FAS) – körperliche und geistige Schäden, die durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft verursacht werden. Heute hat sie ein neues Zuhause gefunden. Genau wie der 16-jährige Pierre. Beide leben als Pflegekinder bei Kathrin (33) und Kevin (41) Hornschuh aus Gelsenkirchen.

Viele Paare bleiben in Deutschland ungewollt kinderlos. Trotzdem suchen Jugendämter vielerorts händeringend nach Familien, die bereit sind, Pflegekinder aufzunehmen . Nicht selten sind diese Kinder traumatisiert, haben Gewalterfahrungen gemacht oder psychische Probleme. Eine Herausforderung, die sich nicht jeder zutraut. Weit mehr Paare wünschen sich, ein Baby zu adoptieren – hier wartet man nicht selten mehrere Jahre.

„Es gibt so viele Kinder da draußen, die eine liebevolle Familie brauchen“

Die Hornschuhs aus Gelsenkirchen begreifen sich als vierköpfige Familie.
Die Hornschuhs aus Gelsenkirchen begreifen sich als vierköpfige Familie. © FUNKE Foto Services | Oliver Mengedoht

Bei Kathrin und Kevin Hornschuh ist das anders. Schon immer war den beiden klar, dass sie Kinder haben möchten. Doch Kathrin Hornschuh kann auf natürlichem Wege nicht schwanger werden. Künstliche Befruchtung kommt für sie aufgrund der Nebenwirkungen nicht in Frage. Außerdem, ergänzt Kevin Hornschuh: „Es gibt so viele Kinder da draußen, die eine liebevolle Familie brauchen.“

Ein Baby wollten die beiden gar nicht unbedingt aufnehmen. „Wir haben das Alter von zwei bis acht angegeben, weil ich sehr an meinem Job hänge und mir nicht vorstellen konnte, so lange in Elternzeit zu gehen“, sagt Kathrin Hornschuh, die als Heilerziehungspflegerin in einem Behindertenwohnheim der Gelsenkirchener Lebenshilfe arbeitet. Etwas anders kommt es aber dann doch. Anfang 2019 zieht der damals 15-jährige Pierre bei den Hornschuhs ein.

15-Jähriger zieht bei der Familie ein: Vom kinderlosen Paar zu Teenager-Eltern

Pierre ist Autist und hat eine geistige Behinderung. Er hat längere Zeit in jener Einrichtung gelebt, in der Kathrin Hornschuh arbeitet, ist aber zu diesem Zeitpunkt zu seiner Mutter ins sauerländische Hemer zurückgekehrt. „Eigentlich sollte Pierre nur sechs Wochen bei uns wohnen, während seine Mutter ins Krankenhaus musste“, erinnert sich Kathrin Hornschuh.

Auch interessant

Doch schnell stellt sich heraus: Pierre möchte in Gelsenkirchen bleiben. Hier geht er zur Schule, hat seine Freunde, spielt Fußball in der Inklusionsmannschaft des SSV Buer. Also entscheiden die Hornschuhs gemeinsam mit dem Jugendamt, den Jungen als Pflegekind aufzunehmen . Wie es sich anfühlt, von einem auf den anderen Tag mit einem Teenager zusammenzuleben?

„Die Betreuer hatten sogar Angst, dass wir sie wieder zurückgeben wollten“

„Am Anfang habe ich kurz gedacht: Von 0 auf 15 Jahre, das ist schon heftig“, erzählt Kevin Hornschuh lachend. Doch schnell seien sie im Alltag angekommen. Die Hornschuhs geben Pierre die Struktur im Leben, an der es bei seiner leiblichen Mutter manchmal gefehlt hat. „Bei uns gibt es klare Regeln, an die er sich halten muss“, sagt Kathrin Hornschuh.

Auch interessant

Im März 2020 stößt Nina zu der Familie. „Als wir sie zum ersten Mal gesehen haben, ist sofort der Funke übergesprungen“, erinnert sich Kathrin Hornschuh. Auch wenn klar gewesen sei, dass das kleine Mädchen eine besondere Förderung benötigt und eventuell FAS hat: „Nach dieser Diagnose hatten die Betreuer sogar Angst, dass wir sie wieder zurückgeben wollen.“ Das habe aber nie zur Debatte gestanden.

Niedrige Frustrationstoleranz und kurze Aufmerksamkeitsspanne

Trotzdem war die Anfangszeit eine Herausforderung für die Familie: „Nina hatte eine sehr niedrige Frustrationstoleranz und eine Aufmerksamkeitsspanne von circa zehn Sekunden“, erzählt Kathrin Hornschuh. Dass die Kleine einmal 20, 30 Minuten in Ruhe vor sich hin spielen würde – im Frühjahr noch undenkbar. Auch sprachlich hängt Nina noch anfangs noch etwas hinterher. „Da mussten wir uns erstmal kennenlernen, um zu sehen: ,Was möchte das Kind überhaupt’?“, sagt Kathrin Hornschuh.

Auch interessant

Pflegefamilie werden? Das ist der Weg

„Für viele Kinder in unterschiedlichen Altersstufen, die nicht in ihrer Herkunftsfamilie aufwachsen können, werden Pflegefamilien gesucht “, heißt es auf der Homepage der Stadt Gelsenkirchen. Ansprechpartner ist der Pflegekinderdienst (PKD) des Jugendamtes.

In einem Seminar haben Bewerber (ganztägig an zwei Samstagen) die Möglichkeit, sich über alle wichtigen Aspekte einer Pflege zu informieren, und werden auf ihre neue Aufgabe als Pflegeeltern vorbereitet.

Anschließend erhalten die Bewerber einen Bogen, den sie ausfüllen und mit einem Lebensbericht zurücksenden müssen. Ein Gesundheitsattest und ein polizeiliches Führungszeugnis müssen ebenfalls eingereicht werden. Ein Sozialarbeiter führt ausführliche Gespräche mit den Bewerbern.

Für das Gelsenkirchener Paar ist klar: Pflegekinder aufzunehmen ist nicht das gleiche, wie biologische Kinder zu haben. „Man muss sich schon bewusst sein, dass die leiblichen Eltern kommen und das Kind zurückfordern könnten“, sagt Kathrin Hornschuh. Auch wenn das in ihrem Fall sehr unwahrscheinlich sei. Die beiden wollen Nina auf jeden Fall sagen, dass sie nicht ihre biologischen Eltern sind, wenn sie soweit ist: „Uns ist wichtig, dass sie ihre Wurzeln kennt“, so Kathrin Hornschuh.

Gelsenkirchener fühlen sich als vierköpfige Familie

Für Pierre fühlten sie sich außerdem nicht direkt als Eltern, sondern eher als Betreuer. Trotzdem begreifen sich die Hornschuhs als vierköpfige Familie . An den Wänden ihres Reihenhauses hängen zahlreiche eingerahmte Familienfotos mit beiden Kindern. Nina spricht die beiden mit „Mama“ und „Papa“ an. In ein paar Jahren können sie das Sorgerecht für das kleine Mädchen beantragen, das im Moment noch bei ihrem Vormund vom Jugendamt liegt. Kathrin und Kevin Hornschuh sind sich einig: „Das haben wir auf jeden Fall vor.“

*Name geändert. Der richtige Name ist der Redaktion bekannt.