Gelsenkirchen. Das Gelsenkirchener Jugendamt hat 2020 bereits überdurchschnittlich viele Fälle von Kindeswohlgefährdungen festgestellt. Woran das liegen kann.
Die Zahl der Kindeswohlgefährdungen in Gelsenkirchen ist bereits jetzt im Vergleich zum Vorjahr gestiegen. Laut Stadt stellte das Jugendamt im Zeitraum vom 1. Januar bis zum 13. Oktober 2020 insgesamt 483 Kindeswohlgefährdungen fest.
Im gesamten Jahr 2019 gab es der Landesstatistikbehörde IT.NRW zufolge 202 Fälle von akuter und 204 von latenter Kindeswohlgefährdung in Gelsenkirchen, insgesamt also 406. Das Jugendamt hat jedoch auch häufiger Anhaltspunkte für Kindeswohlgefährdungen überprüft: 2019 gab es 1080 Einschätzungsverfahren, bis zum 13. Oktober 2020 bereits 1432.
Bei der aktuellen Fallzahl wird nicht mehr zwischen akuter und latenter Kindeswohlgefährdung unterschieden. Unter letzterer laufen Verfahren, in denen die Frage, ob eine Gefahr besteht, nicht eindeutig beantwortet, eine Kindeswohlgefährdung jedoch auch nicht ausgeschlossen werden kann.
Stadtsprecher Martin Schulmann weist darauf hin, dass mittlerweile aus fachlichen Überlegungen auf die Unterscheidung verzichtet werde. Da der Verzicht im laufenden Jahr erfolgt sei, handele es sich bei der Zahl von 483 Fällen um Mischungen aus akuter und latenter Kindeswohlgefährdung.
542 Fälle in Essen, 342 in Duisburg, 179 in Bochum
Ein Blick in andere Ruhrgebietsstädte lässt die Gelsenkirchener Zahlen zunächst hoch erscheinen. So gab es in Essen – einer Stadt mit mehr als doppelt so vielen Einwohnern – im Zeitraum 1. Januar bis 30. September 542 tatsächlich festgestellte Kindeswohlgefährdungen bei 921 überprüften Fällen. Das ebenfalls deutlich größere Duisburg identifizierte in 1253 Verfahren bis zum 11. Oktober 125 Fälle von akuter und 217 Fälle von latenter Kindeswohlgefährdung, insgesamt also 342. Bochum prüfte bis zum 12. Oktober 656 Fälle und stellte 179 Kindeswohlgefährdungen fest.
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Bedeutet das nun, dass Kinder in Gelsenkirchen gefährdeter sind als in anderen Städten?
Nicht unbedingt, sagt Jens Pothmann, Experte für Kinder- und Jugendhilfestatistik an der TU Dortmund: „Die Statistiken spiegeln erst einmal nur wider, was die Jugendämter tun. Sie sind kein Eins-zu-eins-Abbild der Gefährdungslage.“ So kämen auffällige Zahlenunterschiede zwischen den Kommunen allein schon dadurch zustande, dass in den einzelnen Jugendämtern verschiedene Arten von Vorfällen als Kindeswohlgefährdung gemeldet würden und die Prüfverfahren im Detail unterschiedlich abliefen.
Je höher die Zahl der Verfahren, desto höher die Zahl der festgestellten Gefährdungen
Und: „Studien zeigen: Je höher in diesem Bereich die Zahl der Verfahren ist, desto höher ist auch die Zahl der festgestellten Kindeswohlgefährdungen.“ Tatsächlich hat das Jugendamt Gelsenkirchen, verglichen mit den anderen Städten, überdurchschnittlich oft mögliche Gefährdungen geprüft.
Auch die Kooperationsnetzwerke in den einzelnen Kommunen – wie engmaschig zum Beispiel Schulen und Jugendamt zusammenarbeiten – hätten einen großen Einfluss auf die Zahlen.
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Wolfgang Schreck, Leiter des Gelsenkirchener Jugendamtes, sagt klar: „Wenn es eine hohe Anzahl von Meldungen gibt, finde ich das gut.“ Denn natürlich sei es im Interesse der Behörde, wenn aufmerksame Bürger ihre Beobachtungen auch weitergäben. Nur so könnten schließlich mögliche Kindeswohlgefährdungen überprüft und im Falle einer Bestätigung die entsprechenden Schritte veranlasst werden.
Jugendamtsleiter: Schulen und Kitas schauen genauer hin
Ein Teil der hohen Zahl sei darauf zurückzuführen: „Wir merken deutlich, dass es mehr Meldungen gibt. Schulen und Kitas schauen genauer hin und auch aufsehenerregende Ereignisse wie die Missbrauchsfälle von Lügde sorgen dafür, dass die Leute schneller aktiv werden.“
Nicht zuletzt sei das Jugendamt durch tragische Fälle von Kindeswohlmisshandlung in der Vergangenheit besonders sensibilisiert.
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Schreck weist außerdem darauf hin, dass sich hinter den Zahlen nicht nur häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch verbergen, sondern zum Beispiel auch die Vernachlässigung des Kindeswohls durch unzureichende Ernährung, Pflege und Kleidung. Im konkreten Fall könne das etwa bedeuten, dass zur kalten Jahreszeit keine Winterkleidung für die Kinder vorhanden sei: „Wir haben in Gelsenkirchen viele Kinder, die in Bedarfsgemeinschaften leben. Das ist sicherlich auch ein Grund für die relativ hohen Zahlen.“
Dunkelziffer ist hoch – auch schon vor der Corona-Pandemie
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Dass sich – wie von vielen befürchtet – der coronabedingte Lockdown des öffentlichen Lebens auf die Zahl der Kindeswohlgefährdungen ausgewirkt habe, könne er dagegen nicht bestätigen, sagt Schreck. Allerdings habe man eine Art Nachholeffekt bei den gemeldeten Fällen beobachtet, nachdem die Schulen wieder geöffnet worden seien. So oder so sei klar: „In diesem Bereich gibt es immer ein hohes Dunkelfeld. Nicht erst seit Corona.“
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