Gelsenkirchen. Die Verdachtsfälle von Kindeswohlgefährdung haben in Gelsenkirchen einen Höchststand erreicht. Wie hat Corona die Situation verändert?

Das städtische Jugendamt wird immer häufiger aktiv, um möglicher Misshandlung und Verwahrlosung von Kindern nachzugehen. Wie aus aktuellen Zahlen des statistischen Landesdienstes IT NRW hervorgeht, hat die Zahl der Verfahren zur Einschätzung von Kindeswohlgefährdung in Gelsenkirchen einen neuen Höchststand erreicht. 2019 gab es 1080 solcher Verfahren, eine kontinuierliche Steigerung seit Aufnahme der Statistik vor acht Jahren.

Damals wurden noch knapp 600 Verfahren gezählt, 2016 bereits über 800, 2018 dann erstmals über 1000. Gelsenkirchen ist bei dieser Entwicklung keine Ausnahme. NRW-weit ist die Zahl der Verfahren im vergangenen Jahr um rund 14 Prozent auf etwa 49 700 Fälle gestiegen.

Stadt: „Kevin-Effekt“ sorgt für mehr Mitteilungsbereitschaft

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Als einen möglichen Grund nennt die Stadt eine „verstärkte Sensibilisierung für das Thema in Bevölkerung und bei Fachkräften“. Stadtsprecher Oliver Schäfer erinnert hier an den sogenannten „Kevin Effekt“: Ein gleichnamiger Junge aus Bremen wurde 2006 tot in einem Kühlschrank in der Wohnung seiner Eltern gefunden – obwohl es viele Hinweise von Misshandlung gegeben hatte. Die Berichterstattung über vergleichbar dramatische Fälle habe sich in den letzten Jahren gehäuft – was auch die Mitteilungsbereitschaft verstärkt haben könnte, glaubt Schäfer.

Das Jugendamt in Gelsenkirchen wurde in etwa jedem fünften Fall durch Polizei, Gerichte oder Staatsanwaltschaft auf eine Kindeswohlgefährdung hingewiesen. In etwa 14 Prozent der Fälle haben Verwandte, Bekannte oder Nachbarn des Kindes auf die Gefährdung aufmerksam gemacht. Personal von Schulen, Kitas und Tagespflegepersonen waren in etwa 15,5 Prozent der Fälle Initiator für eine Gefährdungseinschätzung. Ein Großteil der Hinweise erfolgt anonym.

Kinder sollen sich künftig besser eigenständig melden können

Digitales Jugendamt

Jugendamtsleiter Wolfgang Schreck zeigte sich im vergangenen Familienausschuss selbst „überrascht“ darüber, wie gut die Arbeit seines Amtes trotz Corona-Beschränkungen fortgesetzt werden konnte.

Unter anderem habe man Familien Lern-Apps und Beschäftigungsideen für die Kinder digital zur Verfügung gestellt, teilweise auch Tablets ausgeben können. Hausbesuche seien mit Maske erfolgt, Inobhutnahmen seien unverändert erfolgt. Kommuniziert habe man per Telefon, Mail und Videokonferenz mit den Familien.

Wolfgang Schreck sagte im vergangenen Familienausschuss, dass die häusliche Gewalt in Familien in der Corona-Krise trotz allgemeiner Befürchtung bislang nicht zugenommen habe. „Schutzbedürftige Kinder durften bereits ab April wieder in die Kita und OGS-Betreuung“, ergänzt Stadtsprecher Schäfer. Die Stadt befürchtet aber eine gewisse Dunkelziffer. Denn problematische Fälle können überhaupt erst durch die Zahl der Meldungen und Verfahren gemessen werden. Wiederum sind durch die Corona-Schließungen viele übliche Meldewege weggefallen.

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Um weniger auf Dritte wie Erzieher, Kinderärzte oder Lehrer bei der Meldung einer Gefährdung angewiesen zu sein und die Hürde für Kinder zu verringern, selbst auf Mitarbeiter des Jugendamtes zuzugehen, arbeitet die Stadt laut Schreck an einem digitalen Zugang, über den sich Kinder eigenständig melden können. „Ein Kind kommt ja nicht einfach so zu uns in die Zeppelinallee“, sagt Schreck. „Da ist die Digitalisierung ein wichtiger Schritt.“

Akute oder latente Gefährdung

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In Gelsenkirchen lag im vergangenen Jahr in 202 geprüften Fällen eine akute Kindeswohlgefährdung und in 204 Fällen eine latente Kindeswohlgefährdung vor. Letzteres bedeutet, dass nicht sofort gehandelt, aber ein Kind kontinuierlich beobachtet werden muss. Wie die Stadt erläutert, ist die akute Gefährdung in Gelsenkirchen dagegen noch mal in zwei weitere Kategorien aufgeteilt. Demnach entscheidet man hier, ob eine Inobhutnahme sofort erforderlich ist oder eine drohende Gefährdung vorliegt. Im zweiten Fall ist laut Jugendamt kein sofortiges Eingreifen, aber eine zügige Veränderung der Situation des Kindes notwendig.

In 373 Fällen wurde zwar keine Kindeswohlgefährdung, aber ein Hilfebedarf festgestellt. In 301 geprüften Fällen lag weder ein Hilfebedarf noch eine Gefährdung vor. NRW-weit ist das Bild etwas anders: Die Zahl der Fälle mit Hilfebedarf (16 800) ist hier niedriger als die Zahl ohne Hilfebedarf (19 100). Das heißt: In Gelsenkirchen muss das Jugendamt häufiger nach einer Prüfung längerfristig aktiv bleiben.