Gelsenkirchen. Den Moscheevereinen fehlen viele Spendengelder – und eine Diskussion über öffentliche Muezzin-Rufe. Die wurde in Gelsenkirchen bisher abgelehnt.

Die Corona-Krise entzieht muslimischen Gemeinden in der Stadt ihre Existenzgrundlage, weil Spendengelder als Hauptgeldquelle fehlen. „Einige Moscheen können auf Rücklagen zurückgreifen, aber besonders kleinere Moscheen sind in ihrer Existenz gefährdet“, sagt Imam Abdullah Günel von der DITIB-Gemeinde in Bismarck. Weder bei Freitagsgebeten noch bei Gemeindefeiern könnten derzeit notwendige Spenden gesammelt werden.

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Vor der Corona-Pandemie besuchten laut Günel freitags knapp 300 Gläubige die Mimar-Sinan-Moschee in Bismarck. „Seit der Wiedereröffnung beten wir mit rund 80 Muslimen, die sich vor Eintritt der Moschee an der Eingangstür mit Namen, Vornamen und Telefonnummer anmelden.“ Auch die muslimischen Hochzeiten, bei denen gerne bis zu 1000 Gäste eingeladen werden, müssen stark eingeschränkt werden. „Junge muslimische Paare und ihre Familien planen Monate, gar jahrelang ihre traditionellen Hochzeiten“, sagt Günel. Mittlerweile würden die Hochzeiten nur noch im engen Familienkreis stattfinden. „Die meisten“, so der Theologe, „passen sich dieser außergewöhnlichen Situation an.“

Gemeindemitglied will aus Angst vor Anschlägen keinen Gebetsruf anfragen

Um in Corona-Zeiten möglichst viele Muslime zum Freitagsgebet einladen zu können, hat die Gemeinde des Verbands der Islamischen Kulturzentren (VIKZ) in Horst ihre Gebete mittlerweile zum Teil nach draußen verlegt. Wie von einem Gemeindemitglied zu hören ist, betet ein Teil der Gläubigen derzeit drinnen, andere verfolgen die Predigt des Imams per Lautsprecher von außen. Das VIKZ hat vier kleinere Moscheegemeinden in Gelsenkirchen – für Festlichkeiten werde gerade in aktuellen Zeiten auf die große Blaue Moschee in Herten ausgewichen. Dort wurde während des Kontaktverbots auch ein öffentlicher Gebetsruf durch einen Muezzin ermöglicht, der nach Angaben der Stadt Herten auch immer noch geduldet wird.

Klage gegen Gebetsruf abgewiesen

Während der Corona-Pandemie ist der Muezzin-Ruf als Zeichen der Solidarität in vielen Gemeinden erstmals ermöglicht worden, unter anderem auch in Köln, Hannover, Dortmund und Wuppertal.

Der Gebetsruf islamischen Gemeinden ist immer wieder Grund für Streitereien. Im zuletzt bekannten Fall im Umkreis hatte das OVG Münster im September 2020 die Beschwerde eines Ehepaares gegen den Gebetsruf im Kreis Recklinghausen abgewiesen. Das Argument des Ehepaars, im Muezzin-Ruf werde der Gott der Muslime, Allah, über den christlichen Gott gestellt, wurde nicht akzeptiert. Zuvor hatte das Ehepaar erfolgreich vor dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen geklagt.

„Unsere Gemeinde hat für einen Gebetsruf gar nicht erst angefragt, weil wir dachten, dass es die Nachbarn stören könnte“, sagt das Horster Gemeindemitglied, das lieber anonym bleiben möchte. „Dieses Jahr hat es in der Stadt wieder Anschläge auf Moscheen gegeben, deshalb wollen wir so etwas vorbeugen.“ Der Internationale Arbeitskreis in Gelsenkirchen, zu dem Vertreter aller großen religiösen Gemeinschaften gehören, hatte dennoch versucht, einen öffentlichen Muezzin-Ruf bei der Stadt anzufragen.

Kirsten Sowa, Sprecherin des Arbeitskreises, spricht von einem „Zeichen der Solidarität", das man so setzen wollte. „Die Muslime wollten deutlich machen, dass sie sich als selbstverständlichen Teil der Stadtgesellschaft verstehen“, so die Pfarrerin. Wichtiger noch als der Gebetsruf an sich sei ihr, dass die Haltung der muslimischen Bürger „von der Stadtgesellschaft wahrgenommen und bejaht wird.“

OB Baranowski zum Muezzin-Ruf: „unangemessen, aktiv zu werden

Imam Abdullah Günel: „Wir wollen mit unseren muslimischen Werten sichtbar sein“
Imam Abdullah Günel: „Wir wollen mit unseren muslimischen Werten sichtbar sein“ © Hacer Bagcaci-Günel

OB Baranowski lehnte die Anfrage des Arbeitskreises ab. Der Grundsatz, durch den Muezzin-Ruf den Zusammenhalt der Bürger aller Religionsgemeinschaften in der Krise stärken zu wollen, sei zwar im Grundsatz nachvollziehbar. „Aber Oberbürgermeister Frank Baranowski hält es derzeit nicht für angemessen, in diesem sensiblen Bereich ohne vorherige ausgiebige Beteiligung der Stadtgesellschaft und der unmittelbaren Nachbarschaft aktiv zu werden“, heißt es aus dem Rathaus auf Nachfrage. Gerade in einer weltoffenen Stadt wie Gelsenkirchen müssten so wichtige Fragen „auf breiter Grundlage diskutiert und mit dem Ziel eines konsensualen Ergebnisses besprochen werden“.

Eine solche Diskussion über den öffentliche wahrnehmbaren Muezzin-Ruf würde sich Abdullah Günel wünschen – nicht nur in Corona-Zeiten. „Für uns Muslime ist es von Bedeutung, das muslimische Leben nicht in den Hinterhöfen zu leben“, sagt der Imam. „Wir wollen mit all unseren muslimischen Werten sichtbar sein.“ Je mehr sich die Mehrheitsgesellschaft für muslimisches Leben öffne, desto mehr werde der Zusammenhalt gestärkt, ist der Theologe überzeugt. Man müsse solche Themen ohne Berührungsangst diskutieren. „Der bloße zivilisierte Umgang miteinander ist ein Mehrwert. Auf diesen Prozess kommt es an“, so Günel. Das Ergebnis der Diskussion sei dabei sekundär.

Sollte ein Muezzin-Ruf in Gelsenkirchen ermöglicht werden? Lesen Sie hier das Pro von WAZ-Redakteur Gordon Wüllner-Adomako und hier das Contra von WAZ-Redakteur Sinan Sat.