Gelsenkirchen-Ückendorf. Das Pixelprojekt Ruhrgebiet ist fotografisches Gedächtnis der Region. Im Gelsenkirchener Wissenschaftspark ist eine neue Ausstellung zu sehen.

Fotografen benötigen manchmal auch taktisches Geschick und eine ausgefeilte Strategie, um das gewünschte Motiv vor die Linse zu bekommen. So war es auch bei Robert Freise. Der Bildautor aus Herne musste zunächst eine Partie Schach gegen Charly Schulz gewinnen, vorher wollte ihn der Inhaber der letzten deutschen Kirmes-Boxbude keinen Zutritt in sein Allerheiligstes gewähren. Freises Mattzug auf dem Brett war seine reale Eröffnung in eine vom Aussterben bedrohte Welt der schlagkräftigen Rummelplatz-Unterhaltung.

522 Fotoserien seit 2003 im Pixelprojekt Ruhrgebiet zusammengetragen

Die Serie „Boxbude“ des Herner Fotografen Robert Freise zeigt ein Stück Kirmeswelt, die vom Aussterben bedroht ist Die Boxbude von Inhaber Charly Schulz ist die letzte ihrer Art in Deutschland und gastiert in jedem Jahr auch auf der Cranger Krimes in Herne.
Die Serie „Boxbude“ des Herner Fotografen Robert Freise zeigt ein Stück Kirmeswelt, die vom Aussterben bedroht ist Die Boxbude von Inhaber Charly Schulz ist die letzte ihrer Art in Deutschland und gastiert in jedem Jahr auch auf der Cranger Krimes in Herne. © Robert Freise

„Boxbude“ hat Freise seine Fotografie-Serie genannt. Sie ist eine von 21, die das Pixelprojekt Ruhrgebiet in ihren gigantischen Fundus neu aufgenommen hat. Peter Liedtke (61) hat seit dem Premierenjahr 2003 exakt 522 Serien zusammengetragen und präsentiert sie in digitaler Form im Internet. In ihrer Gesamtheit betrachtet ergeben sie nicht weniger als ein bedeutendes fotografisches Gedächtnis des Ruhrgebiets. Alle Neuaufgenommenen dürfen auch in diesem Jahr wieder ihre Arbeiten in einer Ausstellung präsentieren. Diese wird am Donnerstag, 13. August, um 18.30 Uhr eröffnet und ist bis Mitte November in der 300 Meter langen Glasarkade des Wissenschaftsparks zu bestaunen.

„Wir hatten diesmal knapp 90 Einreichungen“, sagt der Wanne-Eickeler Liedtke. Der Folgwangschulen-Absolvent gehörte neben renommierten Hochschulprofessoren und anderen Fotografie-Experten zu jener sechsköpfigen Jury, die die besten 21 Fotoserien aus den digitalen Bewerbungen herausgefischt hat. Einige der Auserwählten sind bereits mit anderen Arbeiten Teil des Pixelprojektes, für andere ist es die erste Berufung. „Wir wollen das Ruhrgebiet über diese Fotoserien anders erfahrbar machen“, betont Liedtke. Dabei legte die Jury bei ihrer Auswahl großen Wert darauf, dass kein geschöntes, sondern ein möglichst authentisches Bild der Region gezeichnet wird.

Stadt Duisburg ist der heimliche Hauptdarsteller dieses Pixelprojekt-Jahrgangs

Ein heimlicher Hauptdarsteller dieses Pixelprojekt-Jahrgangs ist die Stadt Duisburg, die Schauplatz gleich mehrerer Fotoserien ist. So auch bei den „Tape Studies“ von Stefanie Pluta. Die in Köln lebende Fotografin (Jahrgang 1980) hat sich das Glasdach des Hauptbahnhofs vorgenommen. Dieses wurde 1934 fertiggestellt und ist seit Jahren derart ramponiert, dass die milchigen Scheiben an zahlreichen Stellen nur noch von schwarzem Klebeband zusammengehalten werden. Auf Plutas Nahaufnahmen sehen aus wie ein eigenständiges Schrift- und Zeichensystem.

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Der in Duisburg geborene und heute in Mülheim lebende Edwin Rach hat Fotos von seinem Besuch bei der Loveparade 2010 vorgelegt, die bekanntlich in einer Katastrophe mit 21 Toten und Hunderten Verletzten endete und sich im Juli zum zehnten Mal gejährt hatte. Rach zeigt nicht nur den mit Menschen zum Bersten gefüllten Tunnel, sondern auch Gäste, die sich über eine Böschung aus dem Gedränge retten können. Trotz der Toten wurde die Technoparty ja damals nicht abgebrochen – aus Angst, dass es dann zu einer weiteren Panik kommen könnte. Und so sind auch trauernde, aber auch wild feiernde Gäste zu sehen.

Proteste gegen das Kohlekraftwerk Datteln 4 dokumentiert

In Gelsenkirchen-Hassel wurde dieses Foto aufgenommen, das aus der Serie „Das Rohrgebiet“ stammt. Die Arbeiten des Berliner Bildautoren Hendrik Lietmann wurden für das Pixelprojekt Ruhrgebiet mit ausgewählt.
In Gelsenkirchen-Hassel wurde dieses Foto aufgenommen, das aus der Serie „Das Rohrgebiet“ stammt. Die Arbeiten des Berliner Bildautoren Hendrik Lietmann wurden für das Pixelprojekt Ruhrgebiet mit ausgewählt. © Hendrik Lietmann

Der Dortmunder Benito Barajas hat unlängst der Brautmodenmeile in Duisburg-Marxloh einen fotografischen Besuch abgestattet. Dieser Stadtteil Duisburgs wird von außen oft nur als berüchtigte Kriminellen-Hochburg betrachtet. Wer aber mal vor Ort vorbeischaut, der entdeckt statt der gefürchteten No-go-Area eine ganze Straße voller Brautmodengeschäfte, die aufgrund ihrer Qualität und Vielfalt scharenweise Käufer aus ganz Europa anlockt. Barajas hält sowohl das Triste der Häuserfassaden fest, aber auch die Glitzerwelt, die hinter den Glasscheiben wartet.

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Auch aktuelle politische Themen kommen zur Sprache: So dokumentierte Allan Schmidt die Proteste gegen die Inbetriebnahme des umstrittenen Kohlekraftwerks Datteln 4 – Besetzung des Geländes inklusive. Und Amina Falah – die Jüngste im Kreise der Auserwählten – schaut in ihrer Serie „Pott-á-Porter“ auf den ausgefallenen Charme der Mode, die die Ruhrgebiets-Jugend von heute bevorzugt. Wie für fast alle Serien gilt auch für Falahs Arbeiten das Prädikat: extrem sehenswert!

Daten und Fakten zum Pixelprojekt Ruhrgebiet

Wer die Ausstellungseröffnung am heutigen Donnerstagabend besuchen möchte, der muss sich aufgrund der derzeit geltenden Hygienevorschriften im Vorfeld per E-Mail anmelden unter: peterliedtke@pixelprojekt-ruhrgebiet.de.

Die Ausstellung ist noch bis 13. November immer montags bis freitags (7-18 Uhr) geöffnet. Der Eintritt in den Wissenschaftspark (Munscheidstraße 14, Ückendorf) ist frei. Alle Infos unter: www.pixelprojekt-ruhrgebiet.de.