Ruhrgebiet. Wegsperren, fordern viele. Therapieren, die Experten. Der Psychologe Dr. Klaus Elsner behandelte jahrelang Pädophile und Sexualstraftäter.

Nicht jedes sexuell missbrauchte Kind wird Opfer eines Pädophilen. Und nicht jeder pädophile Mann missbraucht ein Kind. Trotzdem fordern manche in diesen Tagen, da das ganze Ausmaß des Falls Bergisch-Gladbach mit seinen möglicherweise bis zu 30.000 Tatverdächtigen öffentlich wird, einmal mehr: Alle wegsperren! Wissenschaftler dagegen sagen: Pädophile zu therapieren, schütze Kinder besser. Der Diplom-Psychologe Klaus Elsner (69) war bis 2017 Leiter der Forensik der LVR-Klinik in Viersen. Heute arbeitet er als Gutachter in Düsseldorf. Zu seinen Schwerpunkten gehört die Arbeit mit Pädophilen und Sexualstraftätern.

Ist Pädophilie eine Krankheit?

Elsner: Es wird viel darüber diskutiert. Aber ich denke, nein. Es ist eine Störung der Sexualpräferenz.

NRW-Justizminister- 30.000 Tatverdächtige im Missbrauchskomplex Bergisch Gladbach

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    Schätzungen zufolge ist ein Prozent der männlichen Erwachsenen pädophil?

    Ich weiß nicht, wie man das schätzen will. Pädophilie ist nicht leicht zu diagnostizieren. Studien in den USA und Kanada zeigten schon vor Jahren, dass auch 20 bis 25 Prozent der ‘normalen’ Männer physiologisch, mit einer Erektion, auf pädophile Reize reagieren. Zudem gibt es den Pädophilen nicht. Das Spektrum ist sehr breit. Zwischen dem Mann, der sexuelle Befriedigung ausschließlich mit kleinen Jungs oder Mädchen erlebt, und dem „normalen“ Mann, der verheiratet und Familienvater ist, aber heimlich Kinderpornos guckt, gibt es ganz viel.

    Wie groß ist der Anteil derjenigen, die ihre Neigung „ausleben“, zum Straftäter werden?

    Das ist schwer zu sagen. 2018 wurden laut Strafverfolgungsstatistik etwa 1300 erwachsene Männer wegen sexuellen Missbrauchs von Kindern verurteilt. Eine Zahl, die mich nicht überrascht, angesichts der jährlich insgesamt knapp 7000 Verurteilungen wegen sexueller Straftaten. Anders sieht es bei Kinderpornografie aus. Die ist immer leichter zugänglich, über zwei drei Apps ist man im Darknet. Und das Risiko, erwischt zu werden, ist sehr gering. Ob ein pädophiler Mann seine Neigung auslebt, hängt auch von Faktoren ab wie: Empathie, Gewissen, Moral. Wer emotional weiß, was Recht und Unrecht ist, hat eine höhere Hemmschwelle.

    Dr. Klaus Elsner leitete bis 2017 die Forensik in Viersen. Heute arbeitet er als Gutachter in Düsseldorf.
    Dr. Klaus Elsner leitete bis 2017 die Forensik in Viersen. Heute arbeitet er als Gutachter in Düsseldorf. © LVR Klinik Viersen (Archiv)

    Kanadische Neurobiologen fanden schon in den 1980er-Jahren Auffälligkeiten im Hirn von Pädophilen. Bei Kindesmissbrauchs-Prozessen wird aber immer wieder deutlich, dass pädophile Täter als Kind selbst Opfer sexueller Gewalt wurden. Wo sehen Sie die Ursachen der Pädophilie?

    Man sagt, es sei ein bio-psycho-soziales Phänomen. Hirnscans werden keine hinreichende Erklärung liefern können. Es gibt eine bemerkenswerte Studie aus New York, die die Vita von 500 Kindern begleitete und herausfand, dass viele von denen, die später Kinder sexuell missbrauchten, in ihrer Kindheit physische Gewalt erlebt hatten. Nicht sexuelle Gewalt. Aber jede Studie kommt zu einem anderen Ergebnis.

    Wie merken Betroffene, dass sie Hilfe benötigen?

    Manche wissen es seit der Pubertät. Ich habe viele Männer behandelt, angenehme, gebildete, junge Männer, die sehnlichst darauf hofften, irgendwann doch noch den oder die Richtige zu treffen, und dass ihr Problem dann gelöst sei. Als das nicht passierte, geriet mancher mit Mitte 20 in eine suizidale Krise.

    Leiden alle Pädophile unter ihrer Neigung?

    Es gibt welche, die tun es nicht. Die sind total abgezockt, dissozial, unempathisch und egozentrisch. Die muss man „wegknacken“. Aber wir haben durch die Therapie Einwirkungsmöglichkeiten auf viele andere.

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    Wo finden Pädophile Hilfe? Die Angebote sind rar….

    „Kein Täter werden“ ist eine gute, erste Anlaufadresse. Die haben auch weitere Ansprechpartner.

    Aber dieses vom Land geförderte Präventionsprojekt ist nicht unumstritten. Es fehlten empirische Beweise für den Erfolg, sagen Kritiker.

    Wie wollen Sie denn die Effizienz eines solchen Projekts nachweisen? Das ist fast unmöglich. Da beneide ich oft die Mediziner. Die testen ein neues Medikament, in dem sie 500 Probanden die echte Pille und 500 anderen ein Placebo geben. So leicht ist das bei Pädophilen aber nicht.

    Wie sieht die Therapie aus?

    In den letzten 40 Jahren hat sich viel verändert. Derzeit ist die delikt-orientierte Behandlung en vogue: Wir schauen, was ist das für eine Persönlichkeit, wo gibt es Baustellen wie soziale Ängste oder eine Suchtproblematik. Wir gucken, wo erlebt der seine sexuelle Befriedigung und bringt er sein Leben drum herum auf die Reihe. Dann arbeitet man an den wesentlichen Dingen, versucht, Veränderungen zu erreichen. Paar- und Familientherapien können daraus erwachsen. Aber das kann auch ganz konkret heißen: dass der Patient seinen Internetzugang sperrt oder seinen Computer ins Wohnzimmer stellt, wo auch Frau und Kinder dran können.

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    Gibt es Medikamente, die helfen? Stichwort: Chemische Kastration.

    Ja. Die können im Einzelfall angezeigt sein. Bei dem einen klappt’s, bei anderen nicht. Ich bin immer dafür, alle Optionen zu prüfen. Aber das Problem mit Pillen ist: Sie füttern ihren Patienten damit und fragen ihn, wie er sich damit fühlt. Und der sagt: Prima, keine Erektion mehr, keine Fantasien. Und das müssen Sie dann glauben…

    Heilbar ist Pädophilie ist nach heutigem Wissensstand nicht. Was bringt die Therapie dann?

    Sie schafft Problembewusstsein. Sie zeigt auf, wie heikle Situationen erkannt und vermieden werden können und verhindert so vielleicht Rückfälle. Wir haben einen Studienrat behandelt, der zweimal wegen sexuellen Missbrauchs Schutzbefohlener verurteilt wurde. Neun Jahre danach wurde er wieder rückfällig, man fand Kinderpornos bei ihm. Erneut übergriffig wurde er (im Hellfeld) nicht. Ist das schon ein Erfolg?

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    Würden höhere Strafen für Übergriffe auf Kinder oder den Besitz einschlägiger Bilder Pädophile abschrecken?

    Manche ja. Aber die meisten denken, sie würden nie erwischt. Ich sehe das eher skeptisch. Bei denen, die erwischt werden, wie jetzt in Münster oder Bergisch-Gladbach, da sollte man meiner Meinung nach allerdings den Strafrahmen voll ausschöpfen.

    Einer Studie der Uni Regenburg zufolge sind überhaupt „nur“ 40 Prozent der sexuellen Übergriffe auf Kinder durch pädophile Neigungen motiviert…

    Die anderen Taten werden beispielsweise von alkoholisierten und/oder anderen dissozialen Tätern begangen, oder sind der Beziehungs- oder Familiendynamik geschuldet. Pädophilie und Kindesmissbrauch gleichzusetzen, wird der Problematik pädophiler Männer deshalb nicht gerecht. Mein Paradebeispiel ist das des zwölfjährigen Jungen, der sich völlig unauffällig entwickelt. Bis er an einem Kiosk ein FFK-Heft entdeckt und elektrisiert ist von den nackten Jungs darin. Das trifft ihn wie ein Hammer. Kann der was dafür, ist der ein Sexualstraftäter – wenn er sich einen Therapeuten sucht, der dafür sorgt, dass er nie einem Kind schadet?

    Die Polizei ermittelt im Fall Bergisch-Gladbach inzwischen gegen 30.000 Tatverdächtige. Eine erschreckende, unvorstellbare Zahl. Haben Sie eine Erklärung?

    Das Netz ist ein Sündenpfuhl. Kinderpornografisches Material ist zu leicht zugänglich.