Was hat die Westfälische Hochschule aus Corona gelernt? Und wie kann Studenten in der Krise geholfen werden? Präsident Kriegesmann im Interview.

Gelsenkirchen. Die Stille vor Mensa und Hörsaal ist für Prof. Dr. Bernd Kriegesmann noch immer ungewohnt. Nur vereinzelt sind wieder Studierende auf den Gängen der Westfälischen Hochschule (WH) im Standort Gelsenkirchen zu sehen. Kleine Lehrveranstaltungen laufen wieder an, Prüfungen werden abgelegt. Aber die Flatterbänder vor und in den Vorlesungssälen zeigen deutlich: Von einem normalen Hochschulleben ist man noch weit entfernt. Wie lief und läuft der Betrieb mit Corona? Und wie soll es weitergehen? Präsident Kriegesmann im Interview.

Herr Kriegesmann, wie blicken Sie bislang auf das erste Corona-Semester zurück?

Wir hatten die Herausforderung, innerhalb kürzester Zeit auf ein Lernen auf Distanz umzustellen und konnten es schaffen, hundert Prozent unseres Lehrangebots zu sichern. Zwei Tage nach dem Shutdown lief der gesamte Betrieb weiter, nur eben unter anderen Bedingungen. Wir haben ein sehr positives Feedback von den Studierenden erhalten. Ein Teil der Wahrheit ist aber auch, dass nicht jeder die gleichen Möglichkeiten hat, an der digitalen Lehre teilzunehmen – weil Endgeräte fehlen oder sich daheim die Kinder tummeln. Dann ist es echt schwierig, einer Lehrveranstaltung zu folgen.

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Sie haben angekündigt, den Studierenden entgegenzukommen, indem sie die Nachweisfrist für verpflichtende Praktika verlängert haben. Warum ist das wichtig?

In manchen Studiengängen ist ein Praktikum eine Voraussetzung für die Einschreibung. Wir haben aber auch Praxis-Phasen im Studium. Nur sind die Studierende teilweise nach Hause geschickt worden, weil es zu Schließungen in den Unternehmen kam. Neben den Praktika gab es viele andere Problemfälle. Was ist etwa mit einem Studierenden, der für die letzten Schritte seiner Bachelorarbeit noch mal für eine Auswertung ins Labor musste? Für hunderte individuelle Fälle konnten wir – trotz eines wochenlangen Betretungsverbots der Hochschule – gute Lösungen finden.

Im Hochschulmagazin der WH haben Sie jüngst geschrieben, dass Menschen in weniger privilegierten Positionen, die einen wichtigen gesellschaftlichen Beitrag in der Corona-Krise geleistet haben, Einsatz von Ihnen erwarten können. Was erwarten Sie von sich selbst?

Während in der Pandemie ganze Branchen wie die Eventbranche weggebrochen sind, während in der Pflege oder im Einzelhandel an vorderster Front gearbeitet wurde, waren wir als öffentlich finanzierte Einrichtung in einer hochprivilegierten Position. Keiner musste in Kurzarbeit, keiner musste Sorgen haben, seinen Arbeitsplatz zu verlieren. Deshalb darf auch jeder Steuerzahler von uns erwarten, dass wir uns auf besondere Weise engagieren und uns nicht wegducken – also uns wirklich bemühen, alles so gut und schnell wie möglich zum Laufen zu bringen. Auch haben wir über 4000 Schutzvisiere produziert und den Krankenhäusern zur Verfügung gestellt.

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Welche Lehren ziehen Sie mit Blick auf die Lehre aus der Krise?

Auch wir erleben einen Digitalisierungsschub. Selbst Kollegen, die vorher die Präsenzlehre als ein Heiligtum angesehen haben, merken nun, dass abgefilmte Versuchsaufbauten als Tutorial in der Lehre viel Sinn machen können. Digitalisierung bedeutet aber auch neue didaktische Konzepte zu entwickeln, zum Beispiel im digitalen Seminarraum die Rolle umzudrehen und Studierende eine Online-Sitzung mit der Präsentation ihrer Ergebnisse leiten zu lassen. Außerdem ist unter dem Brennglas der Corona-Krise noch mal besonders sichtbar geworden, dass gewisse gesellschaftliche Gruppen viel schlechter an unserem Bildungssystem partizipieren können. Die Krise hat uns darin bestätigt, die Talentförderung von Jugendlichen aus weniger privilegierten Familien weiter zu stärken. Wir konnten mit der RAG-Stiftung deshalb vereinbaren, die Zahl der Schülerstipendien in unserem Programm Ruhrtalente auf 500 zu verdoppeln.

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Wie bewerten Sie das Krisenmanagement der Landesregierung?

Ich war dankbar, dass wir keine detaillierten Regelungen, sondern robuste Leitplanken erhalten haben. Die Corona-Schutzverordnungen hat uns genug Raum zum eigenverantwortlichen Handeln gegeben. Das habe ich als hilfreich und wohltuend empfunden.

Was erwarten Sie für das kommende Semester?

Schwierig wäre es, einfach zur Normalität zurückzukehren. Große Ansammlung von Personen wie die Erstsemesterbegrüßung sehe ich im nächsten Semester noch nicht als Präsenzveranstaltung. Stattdessen werden die Studienanfänger in kleinen Gruppen die Hochschule in ihrer Einführungswoche erleben und fühlen. Es wäre verheerend, wenn wir sie nur digital willkommen heißen würden. Die Laborpraktika möchte ich direkt mit Beginn der Vorlesungszeit starten lassen. Es wird also ein Mix aus Digital- und Präsenzlehre.

Die neuen Studiengänge

Die WH bietet im kommenden Wintersemester vier neue Studiengänge an. Im Fachbereich Elektronik und angewandte Naturwissenschaften ist es der Studiengang Digitale Systeme,

Im Bereich Umwelt-und Gebäudetechniken werden die drei Bachelor-Studiengänge Technische Gebäudeausrüstung, Umweltingenieurwissenschaften und Wirtschaftsingenieurwesen – Technisches Facility-Management angeboten.

Sie bieten im Wintersemester vier neue Studiengänge an, drei davon in der Umwelt- und Gebäudetechnik. Warum ist jetzt die richtige Zeit für diese für neue Studienprogramme?

Wir hatten vorher den Studiengang Versorgungs- und Entsorgungstechnik, jetzt schärfen wir das Profil mit den neuen Angeboten. Damit wollen wir die Nachfrage bei jungen Menschen stimulieren. Nehmen Sie die technische Gebäudeausrüstung: In diesem Bereich gibt es einen unglaublichen Fachkräftemangel. Wenn man etwa ein Brandschutzgutachten einkaufen möchte, muss man sich an ganz langen Schlangen anstellen.

In den Beschreibungen der Studiengänge wird die Nachhaltigkeit sehr betont.

Wir haben uns immer verstanden als Hochschule, die Verantwortung für die Zukunft übernimmt. Aber ich möchte, dass wir dabei keine Feigenblattdebatten führen. Die Welt wird nicht plötzlich nachhaltig, wenn wir überall Batteriespeicher einsetzten. Dann nimmt auch die Kinderarbeit in den Mienen im Kongo zu, wo Kobalt abgebaut wird. Dann werden mehr indigene Völker dort in Chile verdrängt, wo Lithium abgebaut wird. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Batteriespeicher. Aber ich erwarte ehrliche Debatten über Nachhaltigkeit und keine Beiträge einer Einkommens- und Bildungselite, die zum Selbstfindungskurs nach Nicaragua fliegt. Wir wollen in den Studiengängen konstruktive Lösungen finden und Antworten liefern.

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Was ist der Schwerpunkt beim Studiengang Digitale Systeme?

Deutschland ist mit Blick auf Hardwareanwendung erfolgreich, im Softwarebereich weniger. Der Studiengang aber verbindet Software und Hardware – Sensorik und Aktorik. Wichtig dabei ist die Datenverarbeitung in Echtzeit. Eine Anwendung würde beispielsweise darin bestehen, bei der Qualitätskontrolle in einer Produktionsanlage für flächige Materialien mittels genauester Erfassung mögliche Fehler am Produkt erkennbar zu machen und die Daten umgehend digital zu verarbeiten.