Gelsenkirchen-Altstadt. Lesung der Verleger Boschmann und Bergmann in der Buchhandlung Junius wurde fürs Gelsenkirchener Publikum zu einer Zeitreise ins 18. Jahrhundert.

So eine Lesung kann immer auch eine Zeitreise sein. Werner Boschmann und Werner Bergmann entführten ihr Publikum in der bis auf den letzten Platz gefüllten Buchhandlung Junius zurück ins späte 18. Jahrhundert. Für die rund 70 Zuhörer brachte diese abendliche Geschichtsstunde neben spannenden Schilderungen über das Schicksal einer französischen Familie auf der Flucht auch manch überraschenden Fakt zum Vorschein. Oder hätten Sie gewusst, liebe Leser, dass im Jahre 1794 das Stricken noch eher Männersache war?!?

Die Rollenverteilung innerhalb des Duos war klar verteilt: Werner Boschmann, ein weit über die Grenzen des Ruhrgebiets hinaus bekannter Autor und Verleger, trug mit seiner markanten Lesestimme ausgewählte Passagen aus seinem neuen Buch „Monsieur Paillot im Nirgendwo“ vor. Dieses basiert auf den Tagebucheinträgen von Pierre-Hippolyte-Léopold Paillot, einem Kaufmann, der zwischen 1759 und 1815 gelebt hat. Stieß Boschmann beim Textvortrag auf erklärungswürdige Stellen, stoppte er. Dann erhob sich Werner Bergmann, Professor für Mittelalterliche Geschichte im Ruhestand, von seinem Platz und lieferte den gebannt lauschenden Gästen die passenden Erklärungen und Hintergrundinfos.

Schilderungen aus dem damals noch nicht industrialisierten Ruhrgebiet

In der Gelsenkirchener Buchhandlung Junius blieb bei der Lesung von Werner Boschmann (r.) und Werner Bergmann (dahinter) am Mittwochabend kein Plätzchen mehr frei.
In der Gelsenkirchener Buchhandlung Junius blieb bei der Lesung von Werner Boschmann (r.) und Werner Bergmann (dahinter) am Mittwochabend kein Plätzchen mehr frei. © FUNKE Foto Services | Joachim Kleine-Büning

Bei besagtem Monsieur Paillot handelte es sich um einen Adeligen, der in den Wirren nach der französischen Revolution mit seiner Familie aus dem Heimatstädtchen Condé in Richtung Nordosten flieht. Und auf dieser gut anderthalbjährigen Reise durchquert er auch Städte, Dörfer und Landstriche jener Region, die wir heute als Ruhrgebiet unsere Heimat nennen. Nur hatte im Jahre 1794 die Industrialisierung in dieser Region bis auf wenige Ausnahmen noch gar nicht begonnen.

Paillot landete auf seiner Flucht über Brüssel, Geilenkirchen und Düsseldorf dann erstmals im heutigen Ruhrpott: in Duisburg. Dabei galt es, so las es der Mütze und Kapuzenpullover tragende Boschmann vor, „viele Meilen zurückzulegen“. Professor Bergmann erklärte, dass es sich bei diesem Längenmaß um eine französische Meile handelte, die ungefähr 4,5 Kilometern entsprach. Auch die damaligen Währungen bedürfen der Erläuterungen durch den Historiker.

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Hier angekommen, hatte Monsieur Paillot seinen ersten Kontakt zu Schwarzbrot, auch als Pumpernickel bekannt. „Die Franzosen kannten nur helles Brot aus Weizenmehl, für sie war das dunkle Brot eine völlig neue Erfahrung“, erklärte Bergmann. Es sei aber nur ein Gerücht, dass Feldherr Napoleon Bonaparte der Namensgeber für Pumpernickel gewesen sei. Laut Legende soll er beim Probieren des Schwarzbrotes nur gesagt haben: „Bon pour Nickel“ (übersetzt: „Gut für Nickel“) – wobei Nickel der Name seines Pferdes war.

Der Wirt trank damals im Gasthaus den ersten Schnaps stets selbst

Sabine Piechaczek, Inhaberin der Buchhandlung Junius in Gelsenkirchen, freute sich über den großen Besucherandrang bei der Lesung von Werner Boschmann und Werner Bergmann.
Sabine Piechaczek, Inhaberin der Buchhandlung Junius in Gelsenkirchen, freute sich über den großen Besucherandrang bei der Lesung von Werner Boschmann und Werner Bergmann. © FUNKE Foto Services | Joachim Kleine-Büning

In Duisburg trinkt Monsieur Paillot den ersten Wacholderschnaps seines Lebens. Das erste Glas davon trank seinerzeit stets der Wirt, erfährt das Publikum. Das sollte fremden Gästen signalisieren, dass sie kein gepanschtes Gesöff vorgesetzt bekommen, dass den Trinkenden erblinden lässt. Die Zuhörer lernen auch, was eine „fliegende Brücke“ war – nämlich eine Fähre, die sich die Fließgeschwindigkeit des Gewässers als natürlichen Antrieb zunutze macht.

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Doch es wird auch geschildert, dass die Gäste aus Frankreich es damals in Duisburg, Dorsten, Osterfeld, Dortmund und anderen Orten des temporären Unterkommens vor allem dreckig und heruntergekommen fanden. „Die Paillots entstammten aber dem Adel und waren daheim einen anderen Komfort gewohnt“, erklärt Bergmann. Als sich die Familie 1795 wieder auf den Heimweg nach Nordfrankreich begab, hatten sie sich offensichtlich an diese Lebensverhältnisse gewöhnt. Denn die Tagebuch-Einträge zu den selben Städten waren bei der Rückreise viel positiver und freundlicher. Eine Zuneigung auf den zweiten Blick, sozusagen.

„Monsieur Paillot im Nirgendwo“, Verlag Henselowsky Boschmann, 96 Seiten mit Zeichnungen, 14,90 Euro, ISBN 978-3-942094-34-4