Gelsenkirchen-Altstadt. Alle Rechnungen der Stadt gehen über den Tisch von Karin Welge. Die 56-Jährige ist Gelsenkirchens erste Kämmerin. Mit einer klaren Vision.
Den Weg vom Hans-Sachs-Haus zum Stadtgarten legt Karin Welge federnd zurück. Die befahrene Straße, die Unterführung, der Schotterweg ins atmende Grün von Gelsenkirchens Innenstadt-Oase: Alles keine Mühe für die Frau, die gerade noch an ihrem Schreibtisch im vierten Stock im Rathaus mit harten Zahlen operiert hat. Karin Welge ist Gelsenkirchens erste Kämmerin. Und ihre Gedanken durchmisst die 56-Jährige so behände wie die Strecke zu ihrem Lieblingsplatz.
Gelsenkirchen gehört zu den ärmsten Kommunen Deutschlands. Die Stadt hat rund 1,5 Milliarden Euro Schulden, in wenigen Regionen gibt es mehr Hartz-IV-Empfänger als hier, die Prognosen für die strukturschwache Stadt: durchwachsen bis schlecht. Und über allem hängt die Knute der Bezirksregierung, die jeden Euro überwacht, den die Stadt ausgeben will. „Da gehst du hin? Bist du wahnsinnig?, haben meine Freunde zu mir gesagt, als entschieden war, dass ich hier Dezernentin werde.“ Karin Welge lacht. „Aber mir war klar, dass ich in Gelsenkirchen Menschen erreiche, die Unterstützung brauchen. Ich will ja keinen Wohlfühl-Job machen, ich will etwas bewegen.“
Aufgewachsen ist die zweite Frau im Rathaus nach dem Oberbürgermeister in Wadern im Saarland. „Mein Opa war Bergmann, der war mit 60 körperlich kaputt.“ Beide Eltern kamen aus kleinen Verhältnissen, „aber für meine Schüleraustausche ins Ausland haben sie das Geld immer zusammengekratzt. Bildung war wichtig. Den Horizont zu erweitern.“ Mit den Reisen kamen die Sprachen, vor allem Französisch, das Welge fließend spricht. Und der Blick über den Tellerrand: Nach dem Studium der Rechtswissenschaft arbeitete die junge Juristin zunächst als Büroleiterin im Bundestag und unterrichtete dann Kommissaranwärter an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung in Köln, bis sie schließlich 1998 Kämmerin in Xanten wurde.
Scheitern lehrte sie viel über Politik und Macht
Im konservativen Xanten wäre sie damals sogar fast zur Bürgermeisterin gewählt worden. Es fehlten fünf Prozent. „Eine interessante Phase“, sagt Welge im Rückblick. „Die Art und Weise, wie ich da gescheitert bin, hat mich viel über Politik und Macht gelehrt.“
In dieser Zeit stellte sich der alleinerziehenden Mutter auch die Frage nach der Vereinbarkeit von Familie und Beruf. „Ich habe meinen beiden Töchtern immer gesagt: Es ist nicht so wichtig, wie viel Zeit wir miteinander verbringen, sondern dass wir gute Zeit zusammen haben.“ Auf Ordnung und Disziplin habe sie in der Erziehung Wert gelegt. „Jetzt mit meiner Enkelin bin ich viel entspannter. Aber das konnte ich damals nicht sein.“ Erkenntnisse, die sie aus den schwierigen Jahren in Xanten gezogen hat? „Man darf nicht zu große Schritte gehen. Man muss die anderen mitnehmen. Und man braucht einen langen Atem.“
Als Welge 2011 in Gelsenkirchen das Dezernat Soziales übernahm, konnte sie ihre Erfahrungen gut gebrauchen. „Gelsenkirchen ist von der Stahlindustrie geprägt, deren patriarchische Strukturen durchziehen die Stadt immer noch. Das muss man wissen, wenn man hier als Frau antritt.“
Die neue Sozialdezernentin verlagerte ihren Lebensmittelpunkt nach Buer und wurde 2015 ins Amt der Kämmerin gewählt. Durchaus gegen Widerstände. Denn nicht jeder in der Stadtspitze war von der Personalie begeistert. „Jetzt kommt da auch noch eine Frau hin“, wurde hinter vorgehaltener Hand gemunkelt.
Mitgliedschaften
Karin Welge ist unter anderem Mitglied im Finanzausschuss und im Gleichstellungsausschuss des Deutschen Städtetages, im Finanzausschuss des Städtetages NRW. In Gelsenkirchen wirkt sie im Aufsichtsrat der Stadtwerke Gelsenkirchen und im Aufsichtsrat der Gelsenkirchen-Gemeinnützigen Wohnungsbaugesellschaft (GGW).
Doch Karin Welge setzte sich durch. Heute wohnt sie nicht weit vom Stadtgarten im Gelsenkirchener Süden. „Was mich immer aufgeregt hat, war, dass sich manche Leute aus dem Norden gar nicht über den Kanal getraut haben. Da wurden Waisenkinder in Afrika mit Spenden unterstützt, aber in die Brennpunkte nach Ückendorf oder Schalke fuhr man nicht.“
Rausgehen, beim Türken um die Ecke einen Döner essen, mit den Hilfsarbeitern im Stadtgarten ein Pläuschchen halten: „Wenn man in einer Stadt wie Gelsenkirchen in so einer Position wie ich arbeitet, darf man doch nicht abgehoben sein, oder?“ Sagt’s und zündet sich im Gehen ein Zigarettchen an.