Gelsenkirchen. Ein NRW-Modellprojekt hilft Gelsenkirchen Schülern über Jahre beim Kennenlernen von Berufen: auch von Jungsberufen für Mädchen und andersherum.
96,3 Prozent der neuen Auszubildenden im Bereich Kraftfahrzeugmechatronik sind Jungen, 97,8 Prozent der angehenden Medizinischen Fachangestellten Mädchen – das sind keine Zahlen aus den 50er Jahren, sondern von 2018 aus Nordrhein-Westfalen. Eine „Girls- and Boys-Academy“, die als Modellprojekt im Februar 2020 in Gelsenkirchen startet, soll das ändern helfen. Das neue Konzept will beide Geschlechter langfristig an alle Berufsfelder heranführen, alte Denkmuster aufbrechen und neue Perspektiven schaffen. Stadtdirektorin Karin Welge stellte das Projekt, das in vier weiteren NRW-Städten als Modell anläuft, in Gelsenkirchen vor. Und ist froh, den Arbeitgeberverband vor Ort mit im Boot zu haben.
Feriencamps mit Werkbesuchen und mit Vorbildern arbeiten
Michael Grütering, Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverbandes Emscher Lippe, ist froh über die Chance, ein nachhaltiges Angebot zur geschlechterübergreifenden Berufserkundung machen zu können. „Wir sind im Gespräch mit allen Unternehmen in der Stadt, werden außer mit technischen Betrieben auch mit Pflegediensten kooperieren. Und wir werden mit Vorbildern arbeiten. Weibliche Vorbilder in technischen Berufen und andersherum. In Feriencamps können wir Werkstätten besuchen, zum Beispiel von Daimler. Das wird spannend. Und ich hoffe auf Synergieeffekte dadurch, dass ich auch die Academy für Düsseldorf organisiere.“
Ina Scharrenbach, Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Gleichstellung des Landes Nordrhein-Westfalen, deren Ministerium die Idee anschob, erklärt ihre Absicht: „Die ,Girls‘ and Boys‘ Academies“ sollen dazu beitragen, dass Mädchen und Jungen jeweils über einen längeren Zeitraum für sie vermeintlich untypische Berufsbilder kennenlernen.“ Dabei hat jede Pilotkommune für sich einen eigenen Ansatz gefunden.
In Gelsenkirchen liegt der Fokus auf Schülern ab Jahrgang 8, angesiedelt ist die Academy im Haus der Arbeitgeberverbände Emscher-Lippe. In Gruppen von 25 bis 30 Schülern – zum Start geschlechtergemischt – geht es darum, eigene Stärken und Talente zu ermitteln und zu fördern. Dabei stehen bei der vertieften Berufsorientierung für Mädchen Ausbildungsberufe und Studiengänge im Bereich MINT, also Naturwissenschaften, Informatik, Mathe und Technik im Vordergrund, bei Jungen in den Themenbereichen Soziales, Erziehung und Gesundheit. Die Gruppe soll dabei über Jahre begleitet werden. Auch die Eltern werden mit eingebunden. „Die Chance, die Berufserkundung über mehrere Jahre zu führen, ist wichtig dabei, auch für die Unternehmen. Wir werden jetzt mit den Schulen sprechen, um Schüler dafür anzusprechen. Unsere Idee ist, eine Gruppe schulübergreifend und eine Gruppe aus einer Schule zu begleiten“, erläutert Grütering sein Konzept für Gelsenkirchen.
60 Stunden je Schuljahr über mehrere Jahre, zusätzlich zum Regel-Unterricht
Stadtdirektorin Karin Welge: „Als Stadt Gelsenkirchen freuen wir uns mit den Arbeitgeberverbänden Emscher-Lippe einen starken Akteur zu haben, der über ausgezeichnete Kontakte in die örtliche Wirtschaft und profunde Erfahrungen in der Berufsorientierung verfügt.“
Genutzt werden sollen dabei verschiedenste außerschulische Lernorte, eingebunden sind Experten aus Betrieben oder Hochschulen. Als Partner in Gelsenkirchen steht bereits die ZF Group als Technologiekonzern fest, Gespräche mit weiteren Unternehmen laufen. 60 Stunden je Schuljahr, außerhalb der Unterrichtszeit, in Arbeitsgruppen einmal je Woche oder in Workshops am Wochenende sind dafür geplant. Die Teilnahme am Pilotprojekt ist für die Schüler freiwillig.
Mehr Raum zum Ausprobieren und Karriereperspektiven entdecken
Thorsten Withake, Geschäftsführer Arbeitsmarktmanagement der Regionaldirektion Nordrhein-Westfalen, die die Landesinitiative unterstützt: „Unsere Berufsberater erleben häufig, dass Geschlechterklischees die Berufswahl junger Frauen und Männer beeinflussen. Deshalb ist es gut, dass die Weiterentwicklung des Girls´ und Boys´ Days noch mehr Raum zum Ausprobieren bietet: So können Mädchen und Jungen neue Berufsfelder und Karriereperspektiven entdecken, die ihren Interessen und nicht dem entsprechen, was ‚typisch‘ für ihr Geschlecht ist.“