Gelsenkirchen-Horst. . Der Gelsenkirchener Altersmediziner Andreas Reingräber führt durchs Medizinforum. Dabei geht es nicht nur um eine Krankheit und deren Therapie.

„70 ist das neue 50“, sagt Dr. Andreas Reingräber, Chefarzt der Klinik für Geriatrie im St. Josef-Hospital, zu Beginn des WAZ-Medizinforums. Vor beschaulicher Runde in der Glashalle von Schloss Horst geht es heute nicht um eine Krankheit und deren Therapiemöglichkeiten.

Nein. Es geht um viele Krankheiten, die eines vereint: das Alter ihrer Betroffenen. Denn schnell wird deutlich, die Geriatrie, die heute vorgestellt wird, ist ein weites Feld.

Faustregel: Pro Jahrzehnt eine Krankheit

Geriatrische Patienten bringen altersbedingt verschiedene Funktionseinschränkungen und oft auch mehrere Erkrankungen mit. Eine Faustregel gelte da oft: „Pro Jahrzehnt eine Krankheit.“ Bedeutet: Ein 80-jähriger Patient habe nicht selten acht Grunderkrankungen – und eine akute, die ihm einen Aufenthalt im Horster Krankenhaus beschert. Dessen Ärzte müssen mit verschiedenen Herausforderungen umgehen. Dazu gehören unspezifische Symptome, verlängerte Krankheitsverläufe, veränderte Reaktionen auf Medikamente, psychosoziale Komponenten.

Im Alter funktioniert in unserem Körper vieles anders, etliches schlechter als in der Jugend. Die Nierenfunktion etwa, die Leberfunktion, der Stoffwechsel, das Sehvermögen, das Hörvermögen, die Hirnleistung. Alles soweit normal, beruhigt der Mediziner: „Nicht jeder, der sich zu Hause einen Zettel hinlegen muss, um etwas nicht zu vergessen, hat eine Demenz.“

Im Alter lauert der Dominoeffekt

Wichtig sei es, bei den Patienten den geriatrischen Dominoeffekt zu verhindern. „Den gibt es leider im Alter, wenn ein Patient akut erkrankt.“ Ein Beispiel für einen schlechten Verlauf: Ein Patient hat einen akuten Infekt, wird dadurch bettlägerig, trocknet aus, wird verwirrt, liegt sich wund – und landet im Heim. „Da ist es wichtig, den Menschen sofort zu mobilisieren, damit dieser Teufelskreis nicht eintritt.“

Ein immer wichtigeres Thema im fortgeschrittenen Alter sind demenzielle Erkrankungen. So sei knapp die Hälfte der Menschen im Alter über 90 Jahren davon betroffen. Jedes Jahr kommen deutschlandweit rund 40.000 Erkrankte hinzu. Doch, so Dr. Andreas Reingräber, es gibt Hoffnung. „Eine gesunde Lebensweise hilft, der Krankheit vorzubeugen.“ Gesunde Ernährung sowie körperliche und geistige Bewegung helfen bei der Prophylaxe. So wie das richtige Gewicht. Hier überrascht der Mediziner: „Zu dünn ist auch nicht gut.“ Menschen mit einer Mangelernährung seien besonders gefährdet.

Ein großes Risiko sind Stürze

Ein großes Risiko im Alter sind Stürze, deren Folgen recht gravierend sein können. Drei Viertel der Stürze, die tödlich enden, geschehen Menschen über 65 Jahren. Die Sturzursachen sind vielseitig, können etwa an der Muskulatur liegen oder am Gleichgewichtssinn. „Ältere Menschen profitieren im hohen Maße von Krafttraining und Übungen, die die Orientierung im Raum fördern. Ein klassisches Beispiel ist Tai Chi“, so Dr. Andreas Reingräber.

Er schildert auch eine dritte Herausforderung für die Altersmediziner: die vielen Medikamente, die Patienten teilweise einnehmen. Oftmals eine Mixtur aus etlichen Präparaten, verschrieben von unterschiedlichen Ärzten und ergänzt durch einige frei verkäufliche Helferlein. „Die sind nicht alle harmlos, haben zum Teil erhebliche Nebenwirkungen. Man ist erstaunt, was heute alles verschreibungsfrei ist.“ Da gelte es oft, die Liste der verabreichten Präparate zu überprüfen – und zu kürzen. Hier gelte: „So viel wie nötig, so wenig wie möglich.“

Jetzt können die Besucher es ein wenig nachempfinden, wie anspruchsvoll die Arbeit in der Altersmedizin ist. Dr. Andreas Reingräber fasst das zum Abschluss zusammen: „Die Geriatrie ist eine ganzheitliche Medizin und betrifft alle Organsysteme.“

Bluthochdruck und Diabetes - Wegbereiter der Demenz

Traditionell steht im zweiten Teil des Medizinforums eine Fragerunde an. Dann dürfen die Besucher von eigenen Erfahrungen berichten.

So schildert eine Dame, selbst seit Jahren auf einen Rollator angewiesen, wie wenig Menschen im Umgang mit diesem Hilfsmittel geschult würden, wie mangelhaft manche Geräte seien, die heute sogar im Supermarkt erhältlich seien. Ein bekanntes Problem, meint Dr. Willi Lessmann, einer der Experten, die zur Diskussion dazustoßen. „Teilweise sind Rollatoren vom Discounter eher gefährlich als nützlich.“ Da solle man sich auf jeden Fall an einen Fachmann wenden.

Eine Frage treibt mehrere Gäste um: Welche Rolle spielen die Gene beim individuellen Risiko für Demenz? „Die Familiengeschichte und die Vorbelastung sind ein wichtiger Punkt“, betont Dr. Andrea Erdmann. „Die Gene spielen immer eine Rolle.“ Dann erinnert sie noch einmal an die gesunde Lebensweise – und die Vermeidung von Zivilisationskrankheiten. „Man kann sagen: Bluthochdruck und Diabetes sind Wegbereiter einer Demenz.“