Gelsenkirchen. . Die Finanzen – Awo hat die Beratungsstelle für Gelsenkirchener Straffällige, Inhaftierte und Haftentlassene geschlossen. Kritik daran wird laut.

„Verehrte Besucher, unsere Straffälligenhilfe ,Die Chance’ wurde zum 31.12.2018 geschlossen. Alle nachfolgenden Inhalte haben nur noch informativen Charakter“. Auf der Internetseite des Awo Unterbezirks Gelsenkirchen/Bottrop gibt es den Hinweis zur „Chance“, aber keine weitere Erklärung.

Nach 37 Jahren ist das Ende der psychosozialen Beratungsstelle für Gelsenkirchener Straffällige, Inhaftierte und Haftentlassene sowie deren Angehörige besiegelt worden. Der Grund: die Finanzen.

Die Klienten wurden kurzfristig informiert

35 Jahre „Chance“ wurden 2017 gefeiert. In einer  nachgebauten Zelle las damals Beate Schmid-Große, Lehrerin in der Sozialtherapeutischen Anstalt,Gedichte im Rahmen der Feier vor.
35 Jahre „Chance“ wurden 2017 gefeiert. In einer nachgebauten Zelle las damals Beate Schmid-Große, Lehrerin in der Sozialtherapeutischen Anstalt,Gedichte im Rahmen der Feier vor. © Martin Möller

„Das ist eigentlich eine Katastrophe für Gelsenkirchen“, heißt es aus dem Umfeld der Beratungsstelle an der Grenzstraße, die auch regelmäßiger Anlaufort für Ex-Gefangene war, sei es bei Gesprächsterminen, bei aktiver Lebenshilfe, bei Frühstücksrunden. Die Klienten wurden kurzfristig informiert, sie „fühlten sich „vor den Kopf gestoßen“. Den Wegfall der Beratungsstelle bedauert der Arbeitskreis der Zentralen Beratungsstellen in NRW (vertreten sind hier acht durch das Land geförderte Beratungs-Standorte) „ganz außerordentlich“. Für Betroffene und ihre Familien sei die Schließung im Bemühen um Wiedereingliederung in die Gesellschaft „eine Katastrophe und bedeutet für die Stadt selbst eine Vergrößerung der sozialen Schieflage“.

Rahmenbedingungen bei der Landesförderung

„Wir haben uns ganz, ganz schweren Herzens dazu entschieden, den Arbeitsbereich zu schließen“, sagt Awo-Geschäftsführerin Gudrun Wischnewski und erklärt den Schritt mit veränderten Rahmenbedingungen bei der Landesförderung. Aus Projektmitteln wurde und wird die Arbeit zu 90Prozent bezuschusst, bis Ende Februar müssen die Anträge für das jeweils laufende Jahr gestellt sein. Eine feste Förderung für die Stellen gibt es nicht. „Wir sind da immer volles Risiko gegangen und haben unsere Kräfte natürlich fest eingestellt“, sagt Wischnewski. Drei Mitarbeiterinnen teilten sich rund anderthalb Stellen in der „Chance“, die betroffenen Kräfte haben laut Wischnewski – auch bei der Awo – andere Stellen gefunden.

Übergangswohnung für Haftentlassene

Lange ging das Modell für die Awo auf, auch weil Nebenkosten für eine durch die Wohnungsgesellschaft ggw gestellte Übergangswohnung für Haftentlassene, die nötigen Fahrten zu inhaftierten Gelsenkirchenern in alle anderen Haftanstalten des Landes wie auch Kosten beispielsweise für feste Angebote getragen wurden. Die Richtlinien für zuwendungsfähige Kosten wurden offenbar neu gefasst, diese Sachkosten sind laut Awo nicht mehr abzurechnen. Für den Wohlfahrtsverband war damit eine finanziell tragbare Grenze überschritten. „Wir haben natürlich andere Träger wie die Caritas oder die Diakonie gefragt, ob sie das Angebot übernehmen wollen“, doch die hätten abgewunken“, sagt die Geschäftsführerin.

Die Mitteilung kam überraschend

Dem nächsten Mieter für die Übergangswohnung – eigentlich gedacht, damit Haftentlassene nicht auf der Straße stehen – wurde abgesagt. Gerade dieses Angebot wurde seitens der Justizvollzugsanstalt (JVA) Gelsenkirchen in der Vergangenheit als „wertvoller Baustein für die Arbeit mit Inhaftierten“ gesehen, für manche sei es gar unentbehrlich gewesen. In der JVA hält der Leiter des Sozialdiensts auch deshalb die Awo-Entscheidung für „bedauerlich und fragwürdig“. Für die Inhaftierten sei es „ungünstig, wenn diese Option wegbricht“.

Arbeitskreis fordert Fortsetzung der Arbeit

Die Arbeit der „Chance“ habe zur wesentlichen Verbesserung der Entlassungsperspektiven für Strafgefangene beigetragen, glaubt Elisabeth Nubbemeyer, Leiterin der JVA Gelsenkirchen. Erst vor wenigen Tagen erfuhr sie vom Aus der Beratungsstelle, die Mitteilung kam für sie überraschend. Nicht lange her, da wurde noch mit der „Chance“ und „Start 84“, einer vergleichbaren Beratungsstelle für Essener Häftlinge, über deren Angebote für 2019 gesprochen. Auch in der Sotha, der Sozialtherapeutischen Anstalt an der Munckelstraße war die „Chance“ aktiv.

Der NRW-Arbeitskreis fordert, alle Möglichkeiten auszuschöpfen, „um einen Träger zu finden, der sich in der Lage sieht, diese wichtige Arbeit fortzuführen“ und hofft dabei „auch auf die Unterstützung durch die Stadt Gelsenkirchen“.

>>> Fälle, Fakten, Finanzierung

Die Übergangswohnung der „Chance“ war laut Awo in den Jahren 2015 bis 2018 im Durchschnitt 26 Wochen belegt. Die Betreuung Inhaftierter, Hilfe bei der Wohnungssuche oder Behördenangelegenheiten gehörte zu den Aufgaben der Berater. Über 400 Inhaftierte oder auch Haftentlassene und Angehörige wurden jährlich unterstützt.

Pro Jahr wurden laut Awo maximal 437 „Fälle“ mit je 288 Euro zu 90 Prozent durch das Land finanziert. Für Fälle darüber hinaus gab es keine weiteren Mittel. Am Zuschuss, der sich aus der Betreuung der Fälle ergab, hatte die Awo zehn Prozent Eigenanteil. Das Land zahlte 2017 und 2018 jeweils 125.582 Euro, davor laut Justizministerium NRW weniger.