Gelsenkirchen.

Karl hat 26 Jahre Haft für Mord und Raub verbüßt, Ralf saß gut sechs Jahre ein. Hilfen für die wiedergewonnene Freiheit bekamen sie durch „Die Chance“, eine Beratungsstelle für Straffällige und deren Angehörige.

Mord und Raub – drei dürre Worte, die für ein Langzeitdrama stehen. Für Opfer und Angehörige, für den Täter. „Wegen Mord und Raub“ hat Karl (57) gesessen. 1984 ist er inhaftiert worden, war einer der Langzeitler in Werl. Nach 26 Jahren öffneten sich für ihn letzten Herbst die Gefängnistore in die Freiheit. Ein glücklicher Moment, den Karl still genossen hat. Die Eindrücke, die Luft hat er damals förmlich aufgesogen. Diese Mischung aus Natur und Straßenasphalt, aus Verkehr und Spätsommer, die ihm so fremd geworden war.

„Innerlich habe ich gejubelt“, gesteht der schlanke Mann mit dem markanten Bart und dem Zopf. Und dann hat er das erste Mal in seinem Leben mit einem Handy telefoniert. „Kannte ich ja gar nicht“, sagt er und wundert sich heute noch darüber, wie rasant sich die mediale Welt in zweieinhalb Jahrzehnten weitergedreht hat, während für ihn im Knast Tage zu Wochen wurden.

An der Grenzstraße in einem AWO-Büro sitzt Karl und erzählt seine Geschichte. Hier hat er nach der Haftzeit eine feste Anlaufstelle gefunden. „Die Chance“, die psychosoziale Beratungsstelle für Straffällige und Angehörige, hat ihn auch schon hinter Gittern betreut. Und an seinem letzten Knasttag. „Plötzlich hieß es: Einpacken, noch zwei Stunden bis zur Entlassung. Ich hatte noch gar keinen Wohnplatz. Wenn sich keiner aus der Beratungsstelle darum gekümmert hätte, wäre ich mit acht Kartons vor der Tür gestanden und hätte nicht gewusst, was los ist.“

„Darüber möchte ich nicht sprechen“

Neben ihm sitzt an diesem Tag Ralf. Die beiden kennen sich. Knastjahre verbinden. „Düsseldorf, Hagen und dann die Sotha“, die Sozialtherapeutische Anstalt in Gelsenkirchen, hat Ralf durchlaufen. „Sechs Jahre und vier Monate“ war er in Haft. Weshalb? „Darüber möchte ich nicht sprechen“, sagt der 47-Jährige. Er sucht den Neuanfang und sieht sich auf einem guten Weg. Auch durch die Impulse aus der Sotha. „Am Anfang“, sagt er, „war das vielleicht eine berechnende Sache. Da denkst du, du kannst vielleicht über die Sozialtherapie den Vollzug angenehmer gestalten. Aber nach drei bis vier Monaten Orientierungsphase stellt sich heraus, ob die dich überhaupt haben wollen.“ Mitarbeit ist dabei die Hauptvoraussetzung, die Bereitschaft, sich der Tat und der Verantwortung zu stellen. „Ein Defizit von mir war immer, Hilfe anzunehmen“, sagt Ralf. „Ich denke mal, das ist meine letzte Chance gewesen. Das Ergebnis hat gestimmt.“

„Kaufmännisch“ war Ralf vor dem Knast tätig, hat in Düsseldorf gelebt. Gern auch auf großem Fuß. In der Haftzeit hat er eine Schlosserlehre gemacht. Derzeit schult er zum Koch um. Als Ex-Inhaftierter, glaubt er „ist es besser, in einem gewerblichen Beruf unterzukommen als in einem kaufmännischen. Bei mir dreht sich alles darum, wieder beruflich Fuß zu fassen.“ Ralf hat in Gelsenkirchen eine Wohnung gefunden. Hier hat er jetzt seinen Lebensmittelpunkt, seine Sozialkontakte. Dazu gehören auch immer noch die Chance-Mitarbeiter.

Regelmäßig hat Karl in seiner Haft Besuch bekommen. Antonia Roth, damals noch ehrenamtlich unterwegs und seit zwei Jahren als Sozialpädagogin feste Kraft der Beratungsstelle, hat den Kontakt aufrecht gehalten und auch abgebrochene Beziehungen zu seiner Familie geebnet. „Es ist wichtig, dass man weiß, mit wem man es zu tun hat und wem man von seinem Leben erzählt“, sagt Karl. Nach der Entlassung habe er sich die erste Zeit noch unsicher gefühlt. „Aber eigentlich bin ich weich gefallen, weil ich einen Helferkreis hatte.“ Zu Schwester und Sohn besteht wieder Kontakt. „Ich war eigentlich ein Einzelkämpfer über die ganzen Jahre hinweg, jetzt habe ich wieder eine Familie. Das gibt mir Halt. Lange Zeit habe ich nur Distanz gekannt.“

„Die Chance“ hilft beiden noch über Alltagshürden, zum Beispiel bei Ämtergängen. „Ich habe immer noch Probleme mit Leuten, die Kontrolle über mich haben“, räumt Ralf ein. Daran arbeitet er. Zwei Jahre steht er noch unter Bewährung, Karl bekam fünf Jahre Bewährung. Charly, wie ihn Freunde nennen, hat nach dem Hauptschulabschluss und Mittlerer Reife in Werl eine Kochlehre gemacht. Heute arbeitet er auf 400-Euro-Basis. Mit seiner Haft und den Gründen dafür geht er offen um. „Damit habe ich eigentlich immer gute Erfahrungen gemacht“, sagt er. Feste Strukturen im Tagesablauf sind für Karl wichtig. Und das Gefühl, für sich „eigene Entscheidungen treffen zu können“. Ab und an besucht er noch Ehemalige in Werl. „Das ist jedes Mal ein Schock.Ich frage mich dann: wie hast du das hier so lange ausgehalten?“

Die Angebote sind kostenlos

Die Zusammenarbeit zwischen Justiz und Freier Straffälligenhilfe bekam 1981 eine neue Basis. Damals wurden landesweit vier Beratungsstellen gegründet, die Strafentlassenen notwendige Hilfsangebote zuteil werden lassen sollen. Acht Beratungsstellen arbeiten mittlerweile, eine davon ist – in Trägerschaft der AWO – „Die Chance“ an der Grenzstraße 47. Sie ist Arbeitsplatz für die Sozialpädagogen, -arbeiter und -therapeuten Antonia Roth, Rudolf Kropivsek und Julia Heitger und Anlaufstelle für Gefangene, deren Freunde und Angehörige in der Haft und danach. Das Angebot ist kostenlos.

Die Psychosoziale Beratungsstelle „Die Chance“ ist ein Angebot der Arbeiterwohlfahrt in Gelsenkirchen für Straffällige und ihre Angehörigen. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle an der Grenzstraße 47 informieren, beraten und unterstützen bei allen Fragen, die bei einer Inhaftierung auftreten. Zur Stelle gehören (v.l.) Rudolf Kropivsek, Antonia Roth und Julia Heitger.
Die Psychosoziale Beratungsstelle „Die Chance“ ist ein Angebot der Arbeiterwohlfahrt in Gelsenkirchen für Straffällige und ihre Angehörigen. Die Mitarbeiter der Beratungsstelle an der Grenzstraße 47 informieren, beraten und unterstützen bei allen Fragen, die bei einer Inhaftierung auftreten. Zur Stelle gehören (v.l.) Rudolf Kropivsek, Antonia Roth und Julia Heitger. © WAZ FotoPool

Der Übergang aus der Haft in die Freiheit wird hier mit vorbereitet, um die Prognosen zu verbessern – beispielsweise durch die Anbindung der Häftlinge an ein soziales Umfeld. „Wir können nur Hilfe zur Selbsthilfe leisten“, macht Roth deutlich. „Ein Rundum-Sorglos-Paket können wir nicht bieten. Manche Vorstellungen sind da überzogen.“

Mit den Klienten soll das 30-Jährige gefeiert werden. Nicht als Festveranstaltung, sondern bei der traditionellen Feier zum Jahreswechsel. Dass sich Sponsoren nicht gerade um die Unterstützung Straffälliger reißen, stellt man in der Stelle immer wieder fest. Auch ehrenamtliche Helfer finden sich schwer. Beides „könnten wir dringend brauchen“, so Roth. „Aber die Hemmschwelle ist wohl groß.“ Kontakt: 0209 / 40 94 130