Gelsenkirchen. . Bedrückende Kindheits-Erlebnisse: „Weißer Hase“ ist ein Buch über Missbrauch in den 60er- und 70er-Jahren. Günter Scheidler (61) durchlebte ein Martyrium.

Günter Scheidler ist 61 Jahre alt, seine Kindheit lange her. Dennoch ist sie für ihn unglaublich präsent. Verbracht hat er sie nicht bei seiner Mutter, nicht bei seinem Vater. Scheidler wuchs in Heimen auf. Wenn also nicht bei den Eltern, dann immerhin gut behütet, möchte man meinen. Doch seine Geschichte ist eine andere. Es ist eine voller Schmerz, Trauer und Demütigung. Es ist die Geschichte eines Missbrauchsopfers.

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Verarbeitet hat er sie in einem Buch. Wenn man überhaupt von „verarbeitet“ sprechen kann, denn Scheidler wirkt nicht so, als hätte er bereits alles überwunden. Vielleicht wird er das nie ganz schaffen. Denn positive Ereignisse in seiner Kindheit muss man suchen. Eines der wenigen ist vielleicht das Weihnachtsfest 1963. Da bekam der Sechsjährige einen kleinen weißen Plüschhasen geschenkt. Der gab seinem Buch den Titel: „Weißer Hase“.

Abgeschoben in eine Kinderpsychiatrie

Günter Scheidler wurde 1957 in Wuppertal geboren. „Meine Mutter wollte mich nicht“, erzählt er. Und so kam der kleine Junge in Odenthal in ein Kinderheim. „Die anderen haben immer Besuch bekommen“, erinnert er sich.

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Nur er nicht. „Als ungewolltes Kind hat es gereicht, dass er aufgrund von aggressiven Stimmungen als ,debil‘ in eine Kinderpsychiatrie abgeschoben wurde“, heißt es im Vorwort seines Buches.

So musste Scheidler spätestens ab dem 10. März 1965 miterleben, wie sich sein Leben zum Negativen veränderte. Im Buch schreibt er von einem Mann, der ihn abholte. „Keine Angst, kleiner Hase, ich bin bald wieder da“, sagte er zu seinem Freund – ohne zu wissen, dass er sein Versprechen nicht halten wird.

Scheidler musste Misshandlungen mit ansehen

Günter Scheidler mit seinem Buch „Weißer Hase“. Geschrieben hat es – nach Scheidlers Geschichten – der Autor Robby van Haaken.
Günter Scheidler mit seinem Buch „Weißer Hase“. Geschrieben hat es – nach Scheidlers Geschichten – der Autor Robby van Haaken. © Olaf Ziegler

Es waren die Rheinischen Landeskliniken Langenfeld, in denen Scheidler landete. Im Buch erwähnt er ein entsprechendes Schild, das er damals noch nicht lesen konnte. „Ich war acht Jahre alt und immer noch nicht eingeschult.“ Dafür wurde er „oft und viel am Bett fixiert“. Dabei sei er einfach nur lebhaft gewesen – „wie achtjährige Kinder halt so sind“.

Noch bevor das Schicksal es richtig schlecht mit ihm meinte, musste Scheidler bei anderen Kindern mit ansehen, wie sie von Ärzten und Pflegern misshandelt wurden. Das Buch schildert seine Erinnerungen an einen Jungen, der nackt auf dem Tisch lag: „Zwei Pfleger hielten ihn mit festem Griff. (…) Ein dritter Pfleger stand am hinteren Ende des Tisches und rammte seine rechte Hand in den Anus des Jungen. (…) Jedes Mal, wenn er die Hand einführte, schrie der Junge laut vor Schmerzen und jedes Mal folgte das Lachen der Pfleger.“ Auch Günter Scheidler musste später selbst solche und ähnliche Prozeduren über sich ergehen lassen. Über einen der ersten Vorfälle schreibt er: „Ich hatte Todesangst, mein ganzer Körper war angespannt.“ Nach einem anderen Vorfall, bei dem auch Spritzen zum Einsatz kamen, war er monatelang gelähmt.

1969 ins Kinderheim St. Josef gekommen

1966 kam er in die Schule – direkt in die 3. Klasse, obwohl er weder schreiben noch rechnen konnte. „So schön die Zeit in der Schule war, so demütigend war die tägliche Rückkehr in die Klinik.

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Hoffnung machte sich 1969 breit, als er erfuhr, ins Kinderheim St. Josef nach Gelsenkirchen zu kommen. Doch schon bei der Ankunft folgte Ernüchterung, als Schwester Oberin den „Neuen“ vorstellte: „Er kommt direkt aus dem Irrenhaus. Er wird nicht mit euch zur Schule gehen, dafür ist er zu dumm. (…) Wir werden ihm schon zeigen, wie wir hier mit solchen Kindern umgehen.“

Schwester Therese – „sadistisch und herrschsüchtig“

Schwester Therese war es, die ihm das zeigte. Scheidler beschreibt sie als „sadistisch und herrschsüchtig“. Wenn er an die Zeit zurückdenkt, ist er den Tränen nahe. „Ich wurde von Anfang an ausgegrenzt.“ Er erzählt auch von „Gruppenkeile“: „Ich habe richtig was auf die Fresse bekommen.“ Im Buch heißt es: „Es war wie im Krieg. Und der hatte gerade erst begonnen.“

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Verfasst hat das Buch Robby van Haaken. Scheidler bedankt sich, dass der seine „Geschichte mit großem Einfühlungsvermögen in Worte gefasst hat“.

„Weißer Hase“ ist nicht im Handel erhältlich, sondern kostenlos herunterzuladen auf der Seite www.guenter-scheidler.de

Scheidler wurde oft geschlagen. „Schwester Therese hatte richtig Freude daran, die Kinder morgens durchzudreschen“, erinnert er sich. Meistens gab es Schläge auf Kopf und Hände – immer, wenn ihr etwas missfiel. Den Rohrstock bekam er auch nach dem Essen zu spüren: „Das Essen für uns war teilweise so schlecht, dass sich Kinder während der Mahlzeit erbrechen mussten. Wer sein Essen erbrach, wurde gezwungen, das Erbrochene wieder zu essen“, heißt es im Buch. „Wer seinen Teller nicht leer aß, bekam den Rohrstock.“

Folter in der Badewanne

Erleiden musste Scheidler auch Folter. Samstags war im Kinderheim Waschtag. Wer gebadet wurde, musste erleiden, mehrmals unter Wasser gedrückt zu werden. „Viele haben panisch um sich geschlagen und japsten nach Luft“, heißt es auf Seite 68. „Ich hatte Todesangst.“

In der Sonderschule, die Scheidler nun besuchte, fand er einen Freund: „Von Miguel habe ich gelernt, dass es sich lohnt, sich nicht alles gefallen zu lassen.“ So kam es 1970 zu einem Tag, als Günter Scheidler sich plötzlich wehrte.

Schwester Therese wollte den Jungen mal wieder bestrafen. Er packte sie am Kragen und schrie: „Jetzt ist es genug, Schwester! Wenn Sie uns nicht sofort in Ruhe lassen, gehe ich zur Schwester Oberin und sage ihr, was Sie hier mit uns anstellen!“ Der damals Zwölfjährige erwartete seine Strafe. Aber: „Sie hat mich seither nie wieder angefasst.“

Die meisten Kinder schwiegen

Auch wenn Günter Scheidler in der Folge weitestgehend verschont wurde – im letzten Kapitel ist von Kindern die Rede, die die schlimmsten Sachen beobachten oder selbst erleiden mussten. Als Anfang der 1970er-Jahre das Schwesternheim um ein Schwimmbad erweitert wurde, kam es dort mehrfach zu sexuellem Missbrauch. Die meisten Kinder schwiegen.

Schwester Therese habe damals nicht nur vom allgegenwärtigen Missbrauch gewusst, „sie hatte ihren aktiven Anteil daran“. Sie nahm gelegentlich Kinder mit auf ihr Zimmer. „Auch mir wurde diese zweifelhafte Ehre zuteil.“ Doch offenbar stellte er sich seinen Worten nach „nicht besonders geschickt“ an, weshalb er künftig nicht „weiterempfohlen“ wurde. „Andere hatten dieses Glück nicht.“

Der Weg nach dem Martyrium

1972 hat Günter Scheidler das Kinderheim St. Josef verlassen. Untergebracht war er fortan in einem christlichen Jugenddorf. Dort sei er „gut behandelt“ worden. Nach einem Praktikum in einer Zeche begann er eine Lehre als Gebäudereiniger.

In den 1990er-Jahren hat er seinen Hauptschulabschluss nachgeholt mit einem Schnitt von 2,0. „Ich wollte mir immer beweisen: Ich bin nicht doof!“ Später ging es für Scheidler in den sozialen Bereich – „dort, wo ich immer hin wollte“. Heute arbeitet der 61-Jährige im Regenbogenhaus in Horst, wo Bedürftige mittags ein frisches Essen serviert bekommen.

Auch nach 1972 blieb Scheidler mit anderen Kindern aus dem Heim in Kontakt. „Es gab später auch einen Freundeskreis“, sagt er. Am ersten Treffen habe auch Schwester Therese teilgenommen. Weiteren blieb sie fern, „da sie dort mit Vorwürfen zu ihren Taten und Fragen nach ihren aktuellen Erziehungsmethoden konfrontiert wurde“.

Schwester Therese lebt heute im Heim

Schwester Therese lebt noch. Nach einem Schlaganfall ist die Über-90-Jährige in einem Heim. Ansprechbar sei sie nicht. Wenn dies anders wäre: Was würde Scheidler ihr heute sagen? „Sie soll sich der Vergangenheit stellen. Was sie gemacht hat, ist unverzeihlich!“