Essen. . Helmut D. (67) verbrachte Kindheit und Jugend in Heimen, zuletzt im Essener Franz Sales Haus. Erzogen wurde dort mit Schlägen und Demütigung.

Helmut D.* (Name geändert) war 21 Jahre alt, als ihn das Franz Sales Haus 1972 ins Leben entließ: mit Teller, Tasse, Messer, Gabel, Löffel und einem Resopalbrettchen. „Das war meine Aussteuer.“ Geld, Halt, Liebe und Lebensmut hatte ihm niemand gegeben. Er war nun volljährig, auf sich gestellt, dabei kannte er das Leben draußen nicht. Seit früher Kindheit war er in Heimen aufgewachsen, „und die waren damals alle Knäste“.

Wurden Kinder als Versuchskaninchen missbraucht?

Warum all das wieder aufrollen, nach 40, 50 Jahren? Bei Helmut D. war es unser Bericht über die Psychopharmaka, die Heimkindern in den 1950er, 1960er Jahren verabreicht wurden. Von Ordensschwestern, die die Jugendlichen betreuten und vom Heimarzt, der sie womöglich als Versuchskaninchen missbrauchte. Die Geschehnisse lässt das Franz Sales Haus jetzt wissenschaftlich untersuchen. Auch, ob die Medikamente das Leben von Kindern zerstörten, die sich unter anderen Umständen normal entwickelt hätten.

© Franz Sales Haus

Denn viele frühere Bewohner des Franz Sales Hauses waren keineswegs geistig behindert, sondern Fürsorgezöglinge aus desolaten Verhältnissen, die von Jugendamt oder Psychiatrien an Behindertenheime abgegeben wurden. Wie Helmut D., der in Gelsenkirchen „in komplizierten Familienverhältnissen und von der Wohlfahrt“ lebte: vier Kinder, die Eltern zerstritten, der Vater Trinker, die Mutter an Tuberkulose erkrankt. Nach der Scheidung kamen die Kinder immer wieder in Heime, wenn die Mutter zur Kur musste. „Bei einem Heimaufenthalt kam eine Nonne und verlangte: ,Du musst mir jetzt versprechen, nicht zu weinen! Deine Mutter ist tot.‘“

Nonnen sprachen die Kindern mit Nummern an

Er habe dennoch geweint, heftig. Er war acht. Seine Mutter sei doch liebevoll gewesen – anders als alle Nonnen, die er in seiner Heimkarriere kennenlernen sollte: „gefühlskalt, man kam an sie nicht dran“. Sie hielten ihre Schützlinge auf Abstand, sprachen sie nicht mit Namen an, sondern mit Nummern: „Erst war ich die neun, später die 13. Es war erniedrigend.“

Eine Zuflucht bot die Schule, er blieb zwar mal sitzen, machte aber einen ordentlichen Volksschulabschluss, bevor er mit 14, 15 „abdrehte“, wie er sagt. Man schob den pubertierenden Jungen in die geschlossene Psychiatrie in Bedburg-Hau ab, acht Monate war er da, teils „vollgepumpt mit Psychopharmaka“.

Ein Formular weist ihn als „schwachsinniges Kind“ aus

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Helmut D., der heute 67 Jahre alt ist, erzählt nüchtern von solchen Katastrophen, aus denen er ja nie errettet wurde. Bedburg-Hau nämlich entledigte sich des jungen Patienten, und gab ihn 1967 ans Franz Sales Haus weiter. „Aufnahme des schwachsinnigen Kindes“, steht auf dem Formular. Es war eine zynische Standardformulierung, die ummänteln sollte, dass Jungen wie er dort nicht hingehörten. Als er vor einigen Jahren im Franz Sales Haus Akteneinsicht verlangte und den Satz las, schrie er auf, Tränen traten ihm in die Augen. Die Erkenntnis, wie man ihn um ein anderes Leben betrogen hatte, war ein Schock.

Dabei habe er ja Glück gehabt, durfte dank des Schulabschlusses eine Tischlerlehre machen. „Die anderen wurden nur verwahrt und zugedröhnt. Die bekamen Psychopharmaka wie Hustenbonbons, liefen wie Zombies ‘rum“. 90 Prozent der Bewohner hätte man ausbilden können, glaubt er. „Die hat man mit 21 als Analphabeten entlassen.“

Erziehung mit Teppichklopfer und Bloßstellung

In dem verriegelten Heim mit den großen Schlafsälen habe es weder einen Rückzugsort gegeben noch einen Anwalt für die Jugendlichen. Wer es über die Mauer schaffte, sei von der Polizei zurückgebracht worden. „Der wurde über einen Balken gelegt, und wir mussten alle zuschlagen; 30 Mann. Schrecklich.“ Anschließend sei der Ausreißer tagelang in eine Zelle gesperrt worden. Wer als renitent galt, wurde regelmäßig in die Zwangsjacke gesteckt, musste sich von Mitzöglingen füttern und zur Toilette führen lassen. „Wenn die Nonnen mit einem Jungen nicht fertig wurden, haben Sie oft den Heimarzt gerufen. Der hat den Jugendlichen ein Mittel gespritzt, von dem sie sich schrecklich übergeben mussten“, erzählt Helmut D. „Sie können Ehemalige aus dem Franz fragen: Jeder weiß, was eine Kotz-Spritze ist.“

Ein Schlafsaal im Essener Franz Sales Haus auf einer historischen Aufnahme.
Ein Schlafsaal im Essener Franz Sales Haus auf einer historischen Aufnahme. © Franz Sales Haus

Neben Gewalt und Demütigung sei ein krankhafter Umgang mit Sexualität drittes Merkmal der Heimerziehung gewesen, „in allen Häusern“, sagt Helmut D. Schon mit zwölf, unschuldig und ahnungslos, habe eine Nonne ein Geständnis aus ihm herausgeprügelt, ihn hernach als „Triebtäter“ abgestempelt. Ein falscher Blick, ein zerrissenes Gummiband an der Pyjamahose galten als Beweis für verbotene Beziehungen oder Selbstbefriedigung. Mit dem Teppichklopfer und Bloßstellung vor der Gruppe sei das im Franz Sales Haus bestraft worden, schreibt D. in einer Mail.

In seinem ganzen Leben hatte er keine Partnerschaft

Zuvor hat er im Gespräch schon erzählt, dass er ledig ist, nie eine Partnerschaft hatte. Nein, er habe das nie vermisst. Ja, er sei vor einigen Jahren ein paar Wochen in einer „Psychoklinik“ gewesen. Auch habe er jahrelang Umwege um das Franz Sales Haus gemacht, in der Stadt – und verbal. „Ich habe immer erzählt, dass ich meine Kindheit in Heimen verbracht habe, aber dass ich dort war, habe ich verschwiegen. Meine Kollegen haben doch immer Witze gerissen über die Bewohner.“

Er aber, „der Schwachsinnige“, 1972 mit Nichts entlassen, sei nie kriminell gewesen, nicht mal einen Tag arbeitslos. Er begegne in Essen noch früheren Mitbewohnern, die heute von Hartz IV leben oder auf der Straße, Gespenster aus der gemeinsamen Vergangenheit. Es sei auch für ihn „kein mit Rosenblättern bedeckter Weg“ gewesen: die geraubte Jugend, die lebenslange Scham. Er sei dankbar, dass sich die spätere Leitung des Hauses ab 2010 für die Betroffenen eingesetzt habe, sich bei ihnen entschuldigt habe. Nur eins wüsste er gern: „Haben sich die noch lebenden Nonnen und Verantwortlichen jemals gefragt, ob sie alles richtig gemacht haben?“

>>> SPÄTE ENTSCHÄDIGUNG FÜR BETROFFENE

Helmut D. sagt, der damalige Leiter des Franz Sales Hauses, Günter Oelscher, habe sich sehr für eingesetzt, dass Heimkinder finanziell entschädigt wurden. Im Jahr 2014 habe ihm der Landschaftsverband Rheinland nach „viel Hickhack“ 10 000 Euro bewilligt, sagt Helmut D. 500 Euro waren für Fahrtkosten gedacht, 7500 Euro Sachkosten (für die er Quittungen brauchte) sowie 2000 Euro, die er ohne Nachweis ausgeben durfte. Im Jahr 2017 bekam er außerdem noch 5000 Euro als Rentenersatzleistung.

>>> DUNKLE KAPITEL DER HEIM-GESCHICHTE

Im Jahr 1884 wird in Essen die Gründung einer katholischen Anstalt für geistig beeinträchtigte Kinder beschlossen. Zunächst leben 22 Kinder in einem Heim in der Innenstadt, wo sie von den Schwestern der heiligen Elisabeth betreut werden. Acht Jahre später ziehen die nun fast 200 Kinder mit 18 Ordensschwestern in den Neubau in Huttrop. Nun erhält die Einrichtung auch den Namen Franz Sales Haus.

In den 1950/60er Jahren bringen psychiatrische Landeskliniken und Jugendämter regelmäßig Kinder und Jugendliche in Einrichtungen für Menschen mit einer geistigen Behinderung unter, auch im Franz Sales Haus. Ehemalige Bewohner berichten von einem Alltag, der durch Abgeschlossenheit, demütigende Strafen, mangelnde Zuwendung und Bildung gekennzeichnet war. Die Ordensschwestern waren mit der Betreuung der jungen Menschen mindestens hoffnungslos überfordert.

Ruhr-Uni arbeitet Missbrauchsfälle wissenschaftlich auf

Als bundesweit über Missbrauchsfälle in kirchlichen Institutionen, Schulen und Heimen diskutiert wird, wenden sich im Jahr 2010 auch ehemalige Bewohner des Franz Sales Hauses mit schweren Vorwürfen an die Öffentlichkeit. Sie berichten von Missbrauch und Misshandlungen in den 1950er bis 1970er Jahren.

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Das Haus gewährt Akteneinsicht und benennt eine Vertrauensperson, an die sich Betroffene wenden können. Bei Verdacht auf eine Straftat gibt man die Fälle an die Staatsanwaltschaft. Unter dem damaligen Leiter des Hauses, Günter Oelscher, wird ein Treffen für Betroffene eingerichtet, für Entschädigungen gekämpft und eine Aufarbeitung durch die Ruhr-Uni Bochum vereinbart. Im Jahr 2012 erscheinen die beiden Bücher „Die (fast) vergessenen Heimkinder“ und „Heimerziehung im Essener Franz Sales Haus 1945-1970“; Bernhard Frings zeichnet den Weg der „Zöglinge“ aus der Jugendhilfe in die „Schwachsinnigen-Fürsorge“ nach. Dabei wird bereits thematisiert, dass Bewohner Psychopharmaka erhielten.

Vor zwei Jahren findet die Pharmazeutin Sylvia Wagner im Archiv der Firma Merck dann Hinweise, dass an Kindern im Franz Sales Haus Medikamenten-Tests vorgenommen wurden. Hubert Vornholt, der das Haus seit 2017 leitet, kündigte jüngst an, dass man auch dieses Kapitel von der Ruhr-Universität aufarbeiten lasse.