Wanne-Eickel/Westerholt/Gelsenkirchen. . WAZ-Redakteurin Inge Ansahl hat 1980 auf dem Verbundbergwerk Westerholt unter Tage für ihre Examensarbeit fotografiert.
Ich gehöre der Generation „Psss, leise, Papa schläft noch“ an. Vier Schichten haben meine Kindheit in Wanne-Eickel geprägt. Die Mittagsschicht war die beste. Ich morgens in der Schule, er nachmittags vor Kohle – da durfte ich Freundinnen mit nach Hause bringen. Wir konnten auf dem Hof spielen und so laut sein, wie es die Anlässe erforderten – und abends als komplette Familie Stullen essen. 18-Uhr- und Nachtschicht aber waren extrem doof. Mutter und ich schlichen auf leisen Sohlen, Vater kriegte tagsüber trotzdem kaum ein Auge zu. Alltag in der Bergmannsfamilie. Aber, wem erzähle ich das...
1952 hat mein Vater Karlheinz rübergemacht. Hochdeutsch: Er floh aus einem Kaff bei Erfurt in den Westen. Im kargen Gepäck: sein Berufsnachweis. Buchdrucker war er, hatte die Ausbildung mit Auszeichnung bestanden, aber keinen Bock darauf, staatlich kontrollierten Lesestoff zu drucken ...
Als Buchdrucker zum Pütt
Im freien Teil Deutschlands brauchte man den „zonenflüchtigen“ Buchdrucker indes nicht. Also heuerte er im Bergbau an, heiratete, wurde Vater einer Tochter, besuchte die Abendschule, wurde Steiger, malochte auf Königsgrube, Hannover-Hannibal und Westerholt. Bis zum 30. Juni 1976. Da fuhr er zur letzten Mittagsschicht auf Polsum an ... An jenem schwülwarmen, schwarzen Mittwoch begrub ein „Sargdeckel“ meinen Vater unter sich. So nennen Bergleute eine Gesteinsplatte, die plötzlich aus dem Hangenden bricht. „Da hast du keine Chance“, hieß es. Zur letzten Seilfahrt geleiteten Bergleute aus seiner Schicht ihren toten Kumpel zu Tage. Mein Vater wurde nur 42 Jahre alt. Das gehört zum traurigen Teil meiner Biografie.
Großartige Unterstützung
In die Fotografenlehre hatte mich mein Vater geschickt. Weil ich doch immer zur Zeitung wollte – zu „seiner“ Zeitung, der WAZ. Dabei wollte ich ja „nur“ schreiben. Das musste warten. Später, während des Studiums der „Visuellen Kommunikation“ an der Folkwang-Schule, dann an der Gesamthochschule Essen, holte mich das Leben als Bergmannstochter wieder ein. Bei der Themenfindung für eine Semesterarbeit – und dann fürs Examen.
Ich klopfte also im Betriebsratsbüro der Zeche Westerholt beim damaligen Vorsitzenden Günter Engler an und bekam großartige Unterstützung. Ich lernte in der Folgezeit viele Kumpel meines Vaters kennen, war immer wieder unter Tage zwischen Westerholt und Polsum unterwegs. Erst für eine Semesterarbeit zum Thema Schichtwechsel. Ich machte die Bekanntschaft von Joachim Rabe aus Gladbeck, damals 40 Jahre alt und zum Zeitpunkt unserer Begegnungen im Bandort von Flöz Kriemhild im Revier 22 im Einsatz. Er und seine drei Kumpel hatten besonders harte Maloche: mindestens 28 Grad, hohe Luftfeuchtigkeit, überdurchschnittliche Kohlestaubentwicklung. Als Ausgleich für diese Heißschichten wurde ihre Arbeitszeit von acht auf sieben Stunden gekürzt. Rabe war der Ortsälteste im vierköpfigen Team, trug Verantwortung für die Sicherheit der Kumpel.
Das war kein Zuckerschlecken
Ich war ein paar Mal mit vor Ort – das war kein Zuckerschlecken. Seilfahrt, 20-minütige Fahrt im Personenwagen und dann noch 20 Minuten Fußweg. Der Ortshauer kommentierte damals grinsend: „Klar, dass ein Laie, zumal es 800 Meter tief ist, schon den Weg als Arbeit bezeichnet.“ Nun, „der Laie“, das war ich im vollen Bergmannszwirn und ausgerüstet mit schlagwettergeschützter Fotoausrüstung der RAG-Niederlassung in Herne.
Impressionen vom Bergbau
Respekt vor diesen Arbeitsleistungen
Ich lernte viel in der Zeit. Ja, auch das Prisen. Schnupftabak anbieten gehörte zum guten Ton. Und ich durfte sogar bäuchlings auf dem Kohleband mitfahren. „Und wenn ich dir sage ,runter’, dann gehst du runter! Und zwar sofort und ohne nachzudenken!“ Die Ansage des Steigers an meiner Seite – ich hatte aus Sicherheitsgründen natürlich immer einen Begleiter dabei – war unmissverständlich. Zuwiderhandlung hätte tödlich enden können. Ich sammelte neben Fotomotiven viele Erfahrungen, die ich als „normale“ Besucherin auf wegsamen Fußstrecken unter Tage nicht gemacht hätte, drang in Ecken vor, die mir tiefen Respekt vor den Leistungen der Bergleute in dieser Arbeitswelt einflößten. Ich musste dort kein Geld verdienen, war freiwillig da unten. Während der Examensarbeit getrieben von dem Gedanken, meinem Vater ein Andenken zu geben: Ihm habe ich das Buch „Arbeitsplatz Bergbau“ gewidmet. Der Druck war leider eine reine Katastrophe. „Matschig“ statt schwarz-weiß. Aber das mal nur am Rande.
Einer vom Typ „Unkraut vergeht nicht“
Trotzdem, wenn ich mir den „Matschdruck“ heute so anschaue, im Jahr des endgültigen Aus für den deutschen Steinkohlebergbau, überkommt mich als Kind des Ruhrpotts eine gewisse Wehmut. Zechentürme und Kohlestaub auf der Fensterbank, Vaters Mittagsschicht ausgerechnet an Heiligabend, der Schnee, der nach einem Tag dokumentierte, dass er im Ruhrgebiet gefallen war. Und nicht zu vergessen die vielen kleinen schwarz-blauen Narben an Händen und Armen meines Vaters. Ja, der Kohlestaub hatte sich auch bei kleineren Verletzungen regelrecht „eingefressen“. Was mich noch einmal zurück zu Ortshauer Rabe in seinen Streckenvortrieb führt. Das war einer vom Typ „Unkraut vergeht nicht“, einer, bei dem der Pütt auch die ein oder andere derbe Narbe hinterlassen hatte.
Eine Ära geht zu Ende
Was mich ja schon damals beeindruckt hatte, war der nahezu sozialistische Organisationsgrad in der IG Bergbau. Wen wundert’s. „Du gehst erst zum Betriebsrat und unterschreibst die Mitgliedschaft und danach ins Personalbüro“, hatte mein Vater mir mal erzählt. Was andere Kumpel viele Jahre später grinsend bestätigten.
Ende 2018 ist auf Prosper Haniel Schicht am Schacht. Eine Ära geht zu Ende. Das ist der Grund, warum wir in loser Folge Geschichten und Erinnerungen rund um die Kohle und Bilder „ausgraben“, die der Vergangenheit angehören.
Glück auf!