Gelsenkirchen. . Die Einordnung als “abgehängte Region“ ärgert viele Gelsenkirchener. Sie wehren sich gegen Schubladendenken.

  • Die Nachricht über das vermeintlich abgehängte Gelsenkirchen stößt auf Gegenwehr
  • Gelsenkirchener werben für einen differenzierteren Blick auf die Stadt
  • Liste der Stärken reicht von sozialer Teilhabe bis zu Freiflächen für Gewerbetreibende

Hohe Arbeitslosenquote, schwaches Pro-Kopf-Einkommen und niedrige Lebenserwartung – drei Faktoren, die auch auf Gelsenkirchen zutreffen. Medial wurde die Anfrage der Grünen an die Bundesregierung als Grundlage dafür genommen, die Stadt als „abgehängte Region“ abzustempeln. Mal wieder. Ein Aufreger, besonders für gestandene Gelsenkirchener.

„Denn in der Studie ging es in erster Linie darum, darzustellen, welche Einflussfaktoren die Wahl rechtspopulistischer Parteien begünstigen“, erklärt Dr. Christopher Schmitt. Den Wirtschaftsdezernenten und „überzeugten Gelsenkirchener“ lässt das schlechte Bild, das da gezeichnet wurde, so gar „nicht kalt“.

Ärger ist zu spüren, wenn der Jurist vehement für „einen differenzierteren Blick“ auf die Stadt wirbt: „Ich bin auch Bürger und weiß, was ich an der Stadt habe“, sagt Schmitt. Klar, einige Strukturdaten seien problematisch, dennoch sei Gelsenkirchen als Standort für Unternehmen gut aufgestellt. Er nennt Beispiele: viele freie Gewerbeflächen, parallel dazu die führende Position im Revier bei der Breitbandanbindung, das große Potenzial an Arbeitskräften, die Palette an Angeboten der sozialen Teilhabe für Kinder – Letzteres mehrfach preisgekrönt. Schmitts Fazit lautet daher: „Die schlechte Sicht auf die Stadt bestärkt mich, dieses Image aufzubrechen.“

Pfarrer bemerkt mehr Hilfesuchende

Für den Rotthauser Pfarrer Rolf Neuhaus ist der Bericht keine „bahnbrechende Erkenntnis“. Er sieht die Gefahr, dass der vermeintliche Makel „abgehängte Region“ zusätzlichen Treibstoff dafür bietet, „Gelsenkirchens Negativ-Image dauerhaft zu fixieren“. Daher setzt Neuhaus große Hoffnungen in das Stadtteilerneuerungsprogramm, denn seiner Beobachtung nach neigt „die Mittelschicht dazu, Rott-hausen und dem Süden der Stadt den Rücken zu kehren“. Mit Wohlwollen sieht er zum einen ein starkes bürgerschaftliches Engagement im Quartier, zum anderen aber auch einen hohen Prozentsatz Verlorener: „Es klopfen mehr Menschen als früher an meine Tür und bitten um Hilfe.“

Idyllischer Kontrast zu den verfallenden Häusern in Ückendorf: Der Park von Schloss Berge.
Idyllischer Kontrast zu den verfallenden Häusern in Ückendorf: Der Park von Schloss Berge. © Martin Möller

Eine Lanze für Gelsenkirchen brechen Dr. Frank Peter Müller, Chefarzt am Sankt Marien-Hospital Buer, und sein Kollege Dr. Matthias Föcking, Ärztlicher Direktor der Evangelischen Kliniken. Ihnen wäre es leicht gefallen, nach dem Studium in reichen Städten wie Düsseldorf oder Aachen eine steile Karriere zu machen – bewusst haben sie sich aber für Gelsenkirchen entschieden. Und dafür viele „Kommentare und Kopfschütteln“ hingenommen. Offenbar, so sagen sie, hält sich das Bild von einer „grauen Stadt, in der es Kohle regnet“ hartnäckig in den Köpfen Auswärtiger.

Gute Verkehrsanbindung und Wohnquartiere

Das spornt die Mediziner an, gegen das Schubladendenken anzugehen. Ihre Argumente: eine bunte Kultur- und Freizeitlandschaft mit dem Musiktheater und dem Zoom zum Beispiel, ein breites Sportangebot, Bundesliga-Fußball, logisch, und das auch noch rundherum, dazu Wälder, Halden und Parks, die ihre Besucher „sehr oft positiv überraschen und nachdenklich“ in die fernere Heimat zurückkehren lassen. Müller und Föcking führen noch andere Argumente ins Feld: Erstens, das Berufsethos. Ein Arzt gehe dahin, „wo es schwerer ist, die Dinge zum Guten zu wenden“, sagt Müller. Zweitens, den Menschenschlag. „Der Ruhri trägt sein Herz auf der Zunge. Und das hat er vielen anderen voraus.“

Abgehängt sieht auch Regierungspräsident Prof. Dr. Reinhard Klenke, die Stadt nicht: „Als Gelsenkirchener sage ich: Nein! Natürlich sorge ich mich auch um die hohe Arbeitslosigkeit. Aber positive Faktoren werden langfristig den Ausschlag geben. Dazu gehören unsere guten Angebote in der schulischen Versorgung, in der Kultur, bei der Naherholung, die guten Verkehrsverbindungen und dass man hier bezahlbar wohnen kann. Ich denke, wir müssen, wo immer Gelegenheit ist, laut von unseren Stärken reden und müssen selbstbewusst auf unsere eigene Kraft vertrauen. Das Potenzial ist da!“

Kritik von Seiten der Politik

Die Politik wehrt sich gegen die Stigmatisierung Gelsenkirchens mit dem Prädikat „abgehängte Region.“ In einer Stellungnahme erklärte die Verwaltung, die Stadt habe das Potenzial für eine gute Zukunft geschaffen und vergrößert. Unter anderem die Förderung von Schulen und die kulturelle Vielfalt seien Stärken der Stadt. OB Frank Baranowski konterte die Darstellung mit einem Seitenhieb in Richtung Berlin: „Den Sachverhalt der Ungleichheit festzustellen ist das eine, zu handeln allerdings das andere.“

Wolfgang Heinberg, Fraktionsvorsitzender der CDU forderte: „Wir erwarten deutlichere Weichenstellungen für lokale Anstrengungen in den Bereichen Standort- und Wirtschaftspolitik. Hierzu gehört auch eine bessere Infrastruktur und eine nachhaltigere Entwicklung und Stärkung der Sozialstruktur.“ Der Landesregierung warf Heinberg vor, Bundesmittel zur Konsolidierung des eigenen Haushaltes „mit klebrigen Fingern“ einzusetzen. „Eine vollständige Weitergabe würde mit Sicherheit den Städten Oberhausen, Herne und Gelsenkirchen gut tun.“

Als abgehängte Städte aufgrund der Sozialdaten wurden neben Gelsenkirchen auch Herne und Oberhausen dargestellt. Die Nachbarn sehen sich keinesfalls als „abgehängt“. „Wir haben längst die Ärmel hochgekrempelt und arbeiten streng zukunftsorientiert“, schrieb beispielsweise Hernes Oberbürgermeister Frank Dudda auf Facebook.