Gelsenkirchen. Es gibt kaum eine Schwäche, für die es keine Selbsthilfegruppe gibt. Woche für Woche treffen sich chronisch Kranke, Spielsüchtige und Opfer von häuslicher Gewalt in Gelsenkirchen.

Es ist eine Krankheit, für die es keine Heilung gibt, allenfalls Linderung: chronische Schmerzen. Trotzdem wollte Anita „keine Jammergruppe eröffnen“, als Dr. Jutta Schröder, Chefärztin der Klinik für Schmerztherapie und Palliativmedizin der Evangelischen Kliniken, anregte, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit chronischen Schmerzen zu gründen. Ihrer Vorstellung ist Anita Porwol treu geblieben. Die Gruppe gründete sich im Januar 2011. „Wer glaubt, in unserer Gruppe wird nur über Schmerzen geredet – nein“, sagt die Bottroperin, die seit der Gründung Ansprechpartnerin ist und selbst unter Sklerodemie (rheumatische Erkrankung) leidet. Schmerzen begleiten sie seit über 20 Jahren.

Anita Porwol ist Sprecherin der Selbsthilfegruppe.
Anita Porwol ist Sprecherin der Selbsthilfegruppe. © Funke Foto Services

Ihren Kämpferwillen hat das nicht gebrochen. Sie streitet gegen den Ausbau der Autobahn 52 bei Bottrop, hilft bei Rentenanträgen, unterstützt Mitglieder der Selbsthilfegruppe, damit sie eine Therapie bekommen und arbeitet noch drei Tage in der Woche als Lageristin. „Ich stehe auf und der Tag beginnt“, sagt sie.

Den Blick weiten

Dieses Motto trägt sie auch in die Gruppe, in die inzwischen bis zu 25 Frauen und Männer (sie halten sich zahlenmäßig die Waage) kommen. „Wir reden nicht über Schmerzen, mein Anliegen ist, den Blick zu weiten.“ Das geschieht durch Themen, die in der Gruppe diskutiert werden (Inklusion in der Gesellschaft), Tagesausflüge und Vorträge. Entschuldigungen wie „Ich kann ‘ nicht, weil ich Schmerzen habe“, lässt sie nur sehr ungern gelten.

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Etwa sieben Prozent der Erwachsenen in Deutschland leiden an permanenten Schmerzen, die ihr Leben beeinträchtigen und die sie zwingen, den Sport oder gar den Job aufzugeben. Rückenschmerzen, Migräne, Rheuma – die Bandbreite der chronischen Schmerzen ist groß.

Chronische Schmerzen führen zu Depressionen

„Wer chronische Schmerzen hat, leidet auch unter Depressionen“, sagt Porwol. Im Schnitt vergingen in Gelsenkirchen fünf bis sechs Monate, bis Patienten eine wirkungsvolle Therapie erhielten. In Bottrop sei es „schlimmer“.

Schmerzen sind „Kopfsache“. Der Körper spürt ein Zwicken und meldet das als Alarmsignal ans Gehirn.

Wenn Patienten lernen, diesen Reiz weniger wichtig zu nehmen, zum Beispiel durch autogenes Training, empfinden sie am Ende auch weniger Schmerzen. „Deshalb wird bei uns viel gelacht“, erzählt Anita Porwol und fügt an: „Man darf dem Schmerz nicht so viel Raum geben.“

Betroffensein ist die Voraussetzung 

Es gibt kaum eine Schwäche, für die es keine Selbsthilfegruppe gibt. Woche für Woche treffen sich chronisch Kranke, Spielsüchtige und Opfer von häuslicher Gewalt - Menschen mit demselben Problem schließen sich zusammen, in der Hoffnung, dass sie durch gemeinsame Gespräche mit ihrer Situation besser klar kommen.

Auch Gelsenkirchen hat ein umfangreiches Netz. Es gibt 120 bis 130 Selbsthilfegruppen. Einige davon wird die WAZ in den folgenden Wochen vorstellen. Viele haben Starthilfe von der Selbsthilfe-Kontaktstelle an der Dickampstraße 12 bekommen (Nachfolgeeinrichtung des KISS in Bismarck). Sie ist die Schnittstelle, hier laufen alle Fäden von Interessierten, Selbsthilfe-Aktiven und Profis zusammen.

Christa Augustin-Sayin (li.) und Ute Rosenthal arbeiten in der Selbsthilfe Kontaktstelle Der Pariätische an der Dickampstraße in Gelsenkirchen.
Christa Augustin-Sayin (li.) und Ute Rosenthal arbeiten in der Selbsthilfe Kontaktstelle Der Pariätische an der Dickampstraße in Gelsenkirchen. © Funke Foto Services

Ansprechpartner sind dort seit dem Jahr 2013 Christa Augustin-Sayin und Ute Rosenthal. Beide Frauen haben ein Studium der Sozialpädagogik und Sozialarbeit absolviert. „Selbsthilfegruppen haben für Patienten und Angehörige eine große Bedeutung. Dort können Menschen Erfahrungen austauschen, ihre Interessen vertreten, über Sorgen und Probleme reden und sich durch Experten fachlichen Rat holen“, sagen sie.

Mit anderen zusammen zu sein, die das gleiche Problem haben

Das Betroffensein ist Voraussetzung für Selbsthilfe. Als Betroffener kennt man die Situation und weiß, wie sich andere fühlen. Manche Gruppen bestehen seit fast 20 Jahren, andere haben sich erst kürzlich gegründet, wie die für „Traumatisierte Heimkinder“ oder „Gewalt in der Familie“ (polnischsprachig).

Nicht immer setzen sich Gruppen mit Gesundheitsproblemen auseinander. Es gibt auch soziale Motivationen, wie zum Beispiel das Reparaturcafé in Bulmke. Aber eines gilt für alle Selbsthilfegruppen: „Das Gefühl, mit anderen zusammen zu sein, die das gleiche Problem haben, ist entlastend“, sagt Christa Augustin-Sayin.