Gelsenkirchen. Eine Wende zeichnet sich im Prozess um die Temposünder ab, die tausendfach geblitzt wurden. Hat es den Tempotrichter 120-100-80 tatsächlich gegeben?

Tatort: A52 Höhe Gelsenkirchen-Buer zwischen Kilometer 9,950 und 8,650 in Fahrtrichtung Essen; Tatzeitraum: 4. März bis Ende April 2014. „Täter“: Annähernd 3000 Autofahrer, die auf der vorübergehend Tempo reduzierten Strecke in die Radarfalle der Autobahnpolizei gerast sind. Die Redaktion berichtete im November vergangenen Jahres über die ungewöhnlich hohe Zahl von Temposündern, von denen sich rund 700 anwaltlich vertreten ließen (und noch lassen) und vor Gericht zogen (und zum Teil noch auf ihren Verhandlungstermin warten). Der anfangs zuständige Amtsgerichtsdirektor Bernd Wedig, inzwischen nach Gladbeck gewechselt, hatte nahezu A52-Rekordfallzahlen auf dem Tisch.

Jetzt bekommt die ganze Sache ein echtes Geschmäckle: Hat es den Tempotrichter 120-100-80 im Blitzer-Zeitraum tatsächlich gegeben? Oder sind die Autofahrer ohne Tempolimit – und damit logischerweise viel zu schnell – lediglich an einem Tempo 80-Schild vorbeigefahren, ohne Chance, noch vor den lauernden Messgeräten der Autobahnpolizei ihre Geschwindigkeit auf das vorgeschriebene Limit zu drosseln?

Zeuge erklärte vor Gericht, es habe keinen Tempotrichter gegeben

Nun, in der Verhandlung des geblitzten Holger F. sagte jüngst Zeuge R. – er gehört ebenfalls zu den Klägern, die mit ihrem Bußgeldbescheid vor Gericht zogen – als Zeuge für den „Temposünder“ aus. Danach gab es in dem Bereich, den Straßen.NRW wegen Verdachts auf mögliche Bergschäden vorsichtshalber mit einer Geschwindigkeitsbeschränkung befahren ließ, gar keine stufenweise Reduzierung von 120 auf 80 Stundenkilometer. R. selbst sei mit voller Fahrt am Tempo 80-Schild vorbei gefahren und schon kurz drauf hätte es geblitzt.

Rechtsanwalt will einen Beweisantrag stellen

Der Saarbrücker Rechtsanwalt Robert Posth vertritt R. und wird nach der ersten Verhandlung einen Beweisantrag stellen. „Dadurch, dass nie geklärt wurde, ob die Schilder tatsächlich dort gestanden haben, besteht zumindest der Verdacht der rechtswidrigen Messung“, sagte er im Gespräch mit der WAZ. Zum grundsätzlichen Fall A52 Höhe Buer – sechs Geschwindigkeitskontrollen hatte die Polizei im März und April durchgeführt, bevor das Tempolimit am 8. Mai aufgehoben wurde – meinte er: „Man kann schon davon ausgehen, dass die Häufigkeit der Verstöße gepaart mit der Menge der Beschwerden bei Gericht äußerst auffällig ist.“

Posth selbst ist die Strecke abgefahren, kennt auch das Dauertempolimit in der Kurve vor dem einst observierten Autobahnabschnitt. Der Jurist will alles daran setzen, vor Gericht Antworten zu bekommen: Wer hat wann und wo welche Schilder aufgebaut?

Inzwischen sind es sechs Fahrer, die sagen, es gab nur ein 80-Schild

Sein Mandant fahre ein Auto mit einem hochsensiblen Kamerasystem. Das zeige im Display stets die zulässige Geschwindigkeit an. „Deshalb ist er auch bis zu diesem einen Tag nie zu schnell gefahren und hat keinen Punkt in Flensburg“, sagte Rechtsanwalt Posth. Tempo 120 bzw. 100 im umstrittenen A 52-Abschnitt habe ihm das Display aber eben nicht signalisiert – weshalb R. es nach dem 80er Schild gar nicht schnell genug schaffen konnte, von knapp 180 bis zur Radarfalle auf die vorgeschriebenen 80 zu kommen.

Aus Sicht des Juristen sei auch die Art der Temporeduzierung zu bedenken. „Ohne entsprechende Hinweise, ohne optische Auffälligkeit... Hier ist das Geschmäckle besonders.“ Zufällig haben sich Posths Mandant und Holger F. bei Gericht getroffen. Ihre Verhandlungen fanden nacheinander statt. Aktuell sind es neben den Männern aus dem Kreis Recklinghausen – von dort nutzen viele die A 52 – weitere vier Fahrer, die bezeugen wollen, dass es keinen „Trichter“ gab.