Essen. Vor mehr als 80 Jahren bauten sich arbeitlose Bergleute ihre eigene Reihenhaussiedlung in Gerschede. An Stratmanns Hang und in der Triftstraße wohnen heute viele junge Familien. Ein Besuch.
Der Traum vom eigenen Häuschen – auf der grünen Wiese wird er in vielen neuen Reihenhaussiedlungen wahr. Das ist heute so, und das war vor über 80 Jahren nicht anders. Anfang der 30er Jahre bauten sich in Gerschede 106 arbeitslose Bergleute ihr eigenes Heim auf die Wiesen, die Landwirt August Beckermann zur Verfügung gestellt hatte. Ein soziales Wohnungsbaugesetz machte es möglich. Heute wohnen an Stratmanns Hang und in der Triftstraße wieder junge Familien.
Wir fragten bei drei Familien nach, was sie ausgerechnet an dieser Siedlung reizt? Warum kaufen sie sich 80 Jahre alte kleine Reihenhäuser, in die sie noch jede Menge Eigenarbeit stecken müssen? Wie ist das Lebensgefühl hier in Gerschede?
Ein ruhiges Paradies
André Möllmann, 40-jähriger Elektroinstallateur, kannte die Siedlung von Kindheit an. „Ich bin hier zwei Straßen weiter aufgewachsen“, erzählt er. Seine Tante und Onkel wohnten damals am Stratmanns Hang. Als ihr Haus zum Verkauf anstand, griff er vor sieben Jahren mit seiner aus Bottrop stammenden Frau Alexandra (39) zu. „Ich bin hier gerne hingezogen, weil ich die Häuser und die ruhigen Straßen schön finde“, sagt die Augenoptikerin und zweifache Mutter. Ein Eindruck, den auch ihre Freunde teilten: „Viele, die uns besuchen, sprechen von der ,Urlaubssiedlung’.“
Die großen, individuellen Grundstücke waren es, die auch Thomas (36) und Anne (37) Lahme angelockt hatten. Vor sechs Jahren waren der Polizeibeamte und die Bauzeichnerin zusammen mit Sohn Luke (heute 10) aus Dellwig in die Siedlung gezogen. Inzwischen mischen zusätzlich die Zwillinge Noah und Tristan (4) die Familie auf, so dass die Lahmes die Vorteile ihrer Heimat zu schätzen wissen. „Die drei Jungs können im Garten spielen. Ich mach nur die Tür auf, Kinder ‘raus, und schon ist alles in Ordnung“, schwärmt Anne Lahme geradezu. Und Kindergarten und Grundschule seien nur wenige Minuten Fußweg – alles perfekt.
Kinder wachsen behütet auf
Das bestätigen Ivica (38) und Zeljka (35) Budimir ohne weiteres. Sie haben schon in Holsterhausen und Mülheim gelebt. Aber als sie ihr kleines Haus an Stratmanns Hang „durch Zufall gefunden“ hatten, stand eine Entscheidung fest, die sie bis heute nicht bereut haben: „Hier ist alles super in Ordnung“, sagt der Stahlbauschlosser. Dass seine Frau nach Julia (8) und Luka (5) ihr drittes Kind erwartet, ist der lebende Beweis.
Überhaupt die Kinder. Ob Milena (11) und Marlon (7) Möllmann oder die anderen Mädchen und Jungen: Beschützter und sicherer könnten sie auch woanders kaum aufwachsen.
Nachbarschaftshilfe wird in Gerschede groß geschrieben
Die Nachbarschaft wird unter den Siedlern, ob jung oder alt, groß geschrieben. „Wir passen untereinander auf die Kinder auf“, sagt Alexandra Möllmann. „Wir können auch ein älteres Ehepaar über 70 Jahre bitten, mal nach unseren Kindern zu sehen. Das klappt!“
Auch wenn sie von der Atmosphäre des Bergarbeiter-Quartiers kaum noch etwas spüren, so konnten die Familien die für die Kumpel typische Nachbarschaftshilfe in die Neuzeit hinüber retten. Beim Schnee schüppen, bei der Renovierung der Häuschen, bei schwieriger Gartenarbeit nach „Ela“: Die Siedler packen gemeinsam an.
„Wir haben hier wilde Jahre gehabt...!“
Um anschließend gemeinsam zu feiern. Wie bei der Fußball-WM oder jetzt am Wochenende beim Kinder- und Straßenfest, das Angelika Erkens und Wolfgang Glade als Vorstandsmitglieder der Gemeinschaft organisiert haben.
Etwa 90 Prozent der 106 Hauseigentümer sind Mitglieder in ihrem Verein. „Für uns war der Beitritt selbstverständlich“, versichern die drei Familien übereinstimmend. Für andere offenbar nicht. Auch an Stratmanns Hang und in der Triftstraße gebe es Nachbarn, mit denen man kaum ein Wort wechseln könne. Manfred Krüger, der seit 1966 hier wohnt, kennt noch andere Zeiten: „Wir haben hier wilde Jahre gehabt...!“