Essen. Seit die Nordwestbahn bis Essen-Steele fährt, nutzt sie ein Gleis als Wendebereich. Anwohner, die sich gegen Lärm wehren, laufen vor eine Wand.

Daniel Von der Heyde hat inzwischen ein feines Gespür dafür entwickelt, wann der nächste Zug einfährt. „Er ist gleich da“, sagt er, ohne dabei auf die Uhr zu schauen. Kurz darauf ist das Dröhnen der schweren Diesellok nicht mehr zu überhören. Es ist ein unangenehmer, durchdringender Ton, der einem tief in die Glieder fährt.

Seit dem Fahrplanwechsel im Dezember vergangenen Jahres leben die Anwohner an dem Gleisstück unweit des S-Bahnhofs Steele-Ost nun schon mit den dröhnenden Dieselloks der Nordwestbahn. Weil der Regionalexpress RE 14, „Der Borkener“, seitdem nicht nur bis zum Hauptbahnhof fährt, sondern weiter bis nach Steele, nutzt das private Eisenbahnunternehmen eines der Gleise als Warte- und Wendezone. Zwei Mal pro Stunde hält dort ein Zug, um 15 Minuten später in die entgegengesetzte Richtung zurückzufahren. Sechs Mal die Woche geht das so, montags bis samstags von 6 bis 19 Uhr.

Katharina Hadasch wohnt auf der gegenüberliegenden Seite der Gleise. Den regelmäßig wiederkehrenden Lärm, dem sie und ihre Nachbarn sich plötzlich ausgesetzt sahen, beschreibt sie als unerträglich. Katharina Hadasch wandte sich erst an die Presse und zog dann vor Gericht. Doch ihre Klage gegen die Nordwestbahn lief ins Leere. Warum? In einem Schreiben an den Anwalt, den Daniel Von der Heyde eingeschaltet hat, bringt es das Eisenbahnunternehmen mit einem anschaulichen Vergleich auf den Punkt: Für störenden Fluglärm hafte auch nicht die Fluggesellschaft, sondern der Betreiber des Flughafens.

Die Nordwestbahn fährt im Auftrag des Verkehrsverbundes Rhein-Ruhr (VRR). Das Gleisstück wurde ihr von der Bahntochter DB Netz als betriebliches Wartegleises. Will das Unternehmen seine vertraglichen Verpflichtungen gegenüber dem VRR erfüllen, bleibe gar keine andere Wahl „als die derzeitige Betriebsform“. Das Gericht sah es offenbar genauso.

Anfang des Jahres hielten die Zügen unmittelbar hinter den Häusern an der Dahlhauser Straße.
Anfang des Jahres hielten die Zügen unmittelbar hinter den Häusern an der Dahlhauser Straße. © FUNKE Foto Services | Foto: Socrates Tassos

„Nachdem ich das Urteil gelesen habe, habe ich erstmal stundenlang geheult“, erzählt Katharina Hadasch. Immerhin hielten die Züge seit dem Prozess etwas weiter entfernt von ihrem Haus. „Das ist immer noch nicht schön, aber besser als vorher“, bestätigt Hadaschs Nachbar, Oktay Yasar, der im Rechtsstreit als Nebenkläger angetreten war. Da hatte man das Gefühl, man könnte dem Lokführer aus dem ersten Stock ohne große Mühe eine Tasse Kaffee reichen, so nah standen Loks hinter den Häusern.

Im ungünstigen Fall laufendie Motoren durch bis zur Abfahrt

Die Nordwestbahn hat ihre Triebwagenführer zudem angewiesen, die Motoren abzustellen, sobald dies die technischen Umstände zulassen. Da die Dieselmaschinen auch zur Energie- und Druckluftversorgung des Zuges benötigt werden, sei es technisch notwendig, sie vor der Abfahrt und nach dem Halten in Betrieb zu lassen, in der Regel fünf Minuten lang. Im ungünstigen Fall könne dies bedeuten, dass der Motor nur für wenige Minuten abgestellt wird. Bei Verspätungen könnten sie sogar durchlaufen. Was die Nordwestbahn einen Ausnahmefall nennt, kommt laut Daniel Von der Heyde fast täglich vor.

Daniel von der Heyde steht mit seinem Nachbar Oliver Großbröhmer auf dem Balkon seines Hauses. Hinter den Bäumen verlaufen die Gleise.
Daniel von der Heyde steht mit seinem Nachbar Oliver Großbröhmer auf dem Balkon seines Hauses. Hinter den Bäumen verlaufen die Gleise. © FUNKE Foto Service | Foto: Bastian Haumann

Von der Heyde, der mit seiner Familie am Kanarienberg wohnt, einer ansonsten ruhigen Wohngegend in Freisenbruch, will sich mit den Aussagen der Nordwestbahn nicht zufrieden geben. Zumal die Züge nun näher an seinem Haus halten. Zwischen seinem Garten und den Gleisen liegt ein mit Bäumen und Büschen dicht bewachsener Grünstreifen. Dahinter brummen die Loks. Und es riecht nach Diesel. Natürlich hätten sie gewusst, dass sie in die Nähe einer Bahnlinie ziehen, als sie das Haus vor Jahren gekauft haben, betont Von der Heydes Frau Gisa. Doch die S-Bahnen auf der Strecke vorbei rauschen, hätten sie nicht als störend empfunden. Das hat sich geändert, seit die Nordwestbahn bis Steele fährt.

In der Nachbarschaft sammeln die Von der Heydes Unterschriften. 50 Nachbarn tragen sich in die Liste ein. Eine alte Dame, über 80 Jahre alt schreibt ihnen einen herzzerreißenden Brief.

Auch der Stadt wird esirgendwann zu bunt

Wenn das private Eisenbahnunternehmen jede Verantwortung für den Lärm, den die Anwohner als unzumutbare Belästigung empfinden, von sich weist, beim wem liegt die Verantwortung dann?

Daniel Von der Heyde wendet sich an die Stadt Essen. Die verweist ihn an das Eisenbahnbundesamt, das sich für nicht zuständig erklärt. Zuständig sei die Stadt Essen. Die DB Netz reagiert erst gar nicht. „Auf eine Antwort warte ich bis heute“, klagt Von der Heyde, der längst den Eindruck hat, man schicke ihn von Pontius zu Pilatus. Das Umweltamt bietet immerhin an, für Lärmmessungen vorbeizukommen. Als eine Mitarbeiterin zum verabredeten Termin, erscheint, fährt den ganzen Tag kein einziger Zug. Warum auch immer. „Es ist wie verhext“, sagt Von der Heyde.

Doch auch der Stadt wird es irgendwann zu bunt. Das lässt sich einer E-Mail an Von der Heye entnehmen. Der Dialog mit den weiteren Beteiligten - der Nordwestbahn, dem VRR, der DB Netz und dem Eisenbahnbundesamt – „gestaltet sich als schwierig“ aufgrund „teilweise widersprüchlicher Aussagen“. Das Umweltamt schaltet deshalb das Rechtsamt ein. Die städtischen Juristen kommen zu folgendem Ergebnis: Die Stadt ist nicht zuständig.

Der Casus knacksus ist offenbar dieser: Geht der Lärm von einer betrieblichen Anlage aus? In diesem Fall wäre es an der Stadt, sich der Sache anzunehmen. Oder handelt es sich um Verkehrslärm? Dann wären DB Netz bzw. das Eisenbahnbundesamt in der Pflicht. Eine Definitionsfrage also. Die Untere Immissionsschutzbehörde der Stadt weist daraufhin, dass von den Zügen im Ruhezustand kein Lärm ausgehe. Diesen verursachen sie erst mit dem Hochfahren der Motoren. Deshalb handele es sich um Verkehrslärm. Dass die Nordwestbahn ihre Lokführer angewiesen hat, die Maschinen nach dem Halt auszuschalten, wird für die Anwohner rechtlich gesehen somit sogar zu einem Nachteil. Die Stadt muss und kann nicht tätig werden.

Das Eisenbahnbundesamt lässt Von der Heyde wiederum wissen, es sei „originär nicht zuständig“, da es sich bei der Nordwestbahn, die den Lärm verursacht, nicht um eine bundeseigene Eisenbahn handelt. Die Behörde spielt den Ball weiter an das private Eisenbahnunternehmen. Die Katze beißt sich in den Schwanz.

Das Wirrwarr der Zuständigkeiten zu klären, wäre im Zweifel die Aufgabe eines Gerichts. Dafür müsste jemand klagen - gegen die Stadt, gegen die Bahn oder gegen die Aufsichtsbehörde. Die Frage, ob der Lärm, den die wartenden Dieselloks tatsächlich unzumutbar ist, oder ob die Anwohner weiter damit leben müssen, wäre damit noch gar nicht beantwortet.

Die Stadt lässt wissen, man habe die Beschwerden an die beteiligten Stellen weitergereicht, auf dass sich die Situation verbessern möge. Antwort offen.