Essen. Feuerwehr zählte 300 Einsätze. In Kupferdreh, Steele, Kettwig und Werden wurden mehrere Dutzend Häuser evakuiert. Die Schäden sind immens.
Starke Regenfälle und ausufernde Überschwemmungen haben vom Mittwochabend an in Essen für einen Ausnahmezustand und 300 Feuerwehr-Einsätze gesorgt. Viele Keller im Süden und Osten der Stadt wurden überflutet, ganze Häuser in Kupferdreh, Steele, Kettwig sowie Werden evakuiert und Menschen in Notunterkünften betreut. Bäume sind umgestürzt, Brücken gesperrt und zum Teil sogar beschädigt. Der Bus- und Bahnverkehr kam streckenweise zum Erliegen, Autofahrer mussten Umwege in Kauf nehmen.
Das genaue Ausmaß der Schäden ist noch nicht ansatzweise absehbar. Klar ist nur: Sie sind immens. „Das war die außergewöhnlichste Hochwassersituation seit den 60er Jahren“, sagte eine Sprecherin des Ruhrverbands.
Besonders stark betroffen war in der Nacht zum Donnerstag der Stadtteil Kupferdreh. Dort hat sich der sonst kleine Deilbach in einen reißenden Fluss verwandelt und ist über die Ufer getreten. Der Pegel des Gewässers stieg rasant an, so dass viele Notrufe die Leitstelle der Feuerwehr Essen erreichten. Im Bereich der Bahnstraße versanken innerhalb kürzester Zeit geparkte Autos und ein Wohnmobil in den Fluten. Große Baucontainer auf einer nahe gelegenen Baustelle machten sich selbstständig und schwammen wie Spielzeugboote davon, heißt es im Bericht der Feuerwehr.
30 Mehrfamilienhäuser wurden in Essen-Kupferdreh geräumt
Zeitgleich wurden Teile der Kupferdreher Straße überflutet. In mehreren Häusern fiel der Strom aus. Die Feuerwehr räumte daraufhin rund 30 Mehrfamilienhäuser. Die Bewohner wurden mit Löschfahrzeugen an ihren Hauseingängen abgeholt. Einige mussten sogar mit einem Schlauchboot gerettet werden - am Ende waren es 100 Menschen, die betroffen waren und teils in einer Notunterkunft an der evangelischen Kirche unterkamen. Hilfsorganisationen hatten die Betreuungsstelle eingerichtet.
An der Prinz-Friedrich-Straße wurde der Platz einer Spedition unterspült, so dass ein kompletter Sattelzug im Boden versank. Kräfte der Berufsfeuerwehr konnten einen Yorkshire Terrier in letzter Minute vor dem Ertrinken retten.
Da mit weiteren Überflutungen und somit weiteren Räumungen zu rechnen war, wurde eine weitere Notstelle im Pfarrheim am Heidbergweg 18a eingerichtet. In der heißen Phase waren alle verfügbaren Kräfte der Freiwilligen Feuerwehren aus Essen im Einsatz und damit insgesamt 250 Retter.
Der Baldeneysee trat über die Ufer
Am Morgen nach der Katastrophennacht ebbte der Regen zwar ab, doch „die Lage ist immer noch dramatisch“, sagte Feuerwehrsprecher Christoph Riße um kurz nach 7 Uhr.
Nachdem sich die Lage in Kupferdreh etwas beruhigt hatte, liefen in Steele weitere Keller voll, die Straße „In der Lake“ war besonders betroffen. 30 Bewohner mussten hier ihre Häuser verlassen, weil „der Pegel der Ruhr rapide steigt“, begründete Feuerwehrsprecher Mike Filzen die Maßnahme. Gegen 9 Uhr lag er bei etwa sieben Metern, der Scheitel der Flut erreichte Essen am Mittag.
Das bekamen dann einige Kettwiger zu spüren: Ihre Häuser in der Straße „Zur alten Fähre“ wurden ebenfalls evakuiert, die Bewohner in einem Gerätehaus der Feuerwehr betreut. Die Polizei spracht von einer „überschaubaren Gruppe“ Betroffener. Ab 12 Uhr gingen die Wasserstände an der Messstation Hattingen dann nach und nach zurück, was aber Anwohner der Laupendahler Landstraße Stunden später nicht davor bewahrte, dass auch sie ihre Wohnungen verlassen mussten. 40 Häuser wurden am frühen Abend evakuiert. Auch hier sah sich die Feuerwehr gezwungen, Rettungsboote einzusetzen.
Der Bahnverkehr der S9 musste eingestellt werden, weil Gleise und das Fundament eines Brückenpfeilers am Bahnhof Kupferdreh in der Nacht unterspült worden waren. Ein Statiker wird die Standfestigkeit prüfen, bevor die Strecke wieder freigegeben werden kann. Wann das sein wird, ist offen. Welche Wucht das Wasser dort hatte, ließ sich erahnen: Einsatzkräfte zogen meterdicke Baumstämme aus dem Deilbach, die die Fluten aus Langenberg anschwemmten.
Während der eigentlich kleine Fluss sich nach Sonnenaufgang langsam wieder in sein Bett zurückzog, schwoll die Ruhr zusehends an und der Baldeneysee trat über die Ufer. Eine braune Brühe machte die nahen Wege komplett unpassierbar. In Werden und Kettwig standen sie einen halben Meter unter Wasser, Erdgeschosse der Häuser liefen voll, an der Brehminsel hieß es „Land unter“, dort ragten nur noch die Bäume hervor. Campingplätze und Straßen wurden überflutet.
Auf der Laupendahler Landstraße gab es kein Durchkommen mehr, die Konrad-Adenauer-Brücke in Essen-Überruhr wurde gesperrt, Autofahrer mussten rund um die Ruhr viel Geduld mitbringen, weil immer wieder Straßen dicht gemacht wurden. So viele, dass die Polizei Essen sie alle gar nicht aufzählen mochte.
Zwangsläufig wurde auch der Öffentliche Nahverkehr ausgebremst: Betroffen waren die Buslinien 141, 153, 155, 166, 177, 180 und 190. Die Ruhrbahn richtete Umleitungen ein. Bei der Deutschen Bahn war die Strecke Köln - Düsseldorf - Essen - Dortmund nur mit erheblichen Einschränkungen befahrbar. Teilweise kam es zu Umleitungen mit Verspätungen beziehungsweise Zug- oder Haltausfällen.
Oberbürgermeister Kufen machte sich ein Bild vor Ort
Die Fluten in Steele und die Wasserkaskaden am Baldeney-Wehr zogen viele Schaulustige an. Am Steeler Ufer entlang der überschwemmten Promenade fotografierten Anwohner eine bizarre Szenerie. Das Freibad des Schwimmvereins Steele 1911 soff komplett ab, nur zwei Duschen, die aus den Fluten herausragten, ließen die Anlage noch erahnen. Boote, Rasenmäher und nagelneue Duschkabinen verschluckte die Ruhr. Nicht weit entfernt zogen leere Boote oder Plastikbehälter und selbst Abfalltonnen, die der Strom mit sich riss, an den Augen der Beobachter vorbei.
Mitglieder des Steeler Kanuclubs waren seit der Nacht damit beschäftigt ihre Boote zu retten, da das Wasser sie gegen die Decke der Halle zu drücken drohte. Eine Steelenserin, die seit 40 Jahren im Stadtteil lebt, sagte: „So etwas habe ich noch nicht gesehen.“
Stadt Essen bietet ein Bürgertelefon an
Oberbürgermeister Thomas Kufen, der sich am Donnerstagmorgen zusammen mit Ordnungsdezernent Christian Kromberg ein Bild von der aktuellen Situation der Betroffenen und dem Ausmaß der Schäden machte, lobte den „großartigen Einsatz“ der Retter von Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und weiteren Hilfsorganisationen. Beeindruckt zeigte sich Kufen jedoch nicht nur von deren Leistungsfähigkeit, sondern auch von der Solidarität der Nachbarn in den betroffenen Wohnquartieren untereinander. „Sie haben sich in der Nacht gegenseitig geholfen. Das war vorbildlich.“
Die Situation sei nun nach dem Unwetter natürlich nicht einfach und es werde dauern, bis alle Schäden bekannt und behoben sind. Dazu dürften Umweltschäden kommen, deren Ausmaß nur schwer absehbar ist. Aus Kupferdreher Kellern lief zum Beispiel Heizöl aus und gelangte über den Deilbach in den Baldeneysee.
Doch all diesen Katastrophenszenarien zum Trotz: Das Wichtigste sei, so Kufen, dass nach bisherigem Kenntnisstand in Essen keine Menschen verletzt oder zu Tode gekommen sind, wie die Polizei bestätigte.
Was auch der Leistung der Einsatzkräfte wie an der „Rothen Mühle“ in der Heisinger Aue zu verdanken war: Dort hatten sich zwei Menschen, die vom Wasser eingeschlossen wurden, auf ein Dach gerettet. Sie steckten in einer ausweglosen Situation, bis gegen 14 Uhr ein Helikopter der Bundespolizei sie an Bord holte und unverletzt zur Zentrale der Feuerwehr an der Eisernen Hand flog.
Grüne: Den Bevölkerungsschutz neu justieren
Für Kai Gehring, Grüne-Bundestagsabgeordneter aus Essen, muss es nach der akuten und schnellen Hilfe für die Betroffenen um die Frage gehen, „wie unsere Heimat Essen klimaresilienter und robuster gegen Extremwetter wird“. Die Klimakrise mache ein Neujustieren des Bevölkerungsschutzes dringlicher und erfordere eine bessere Ausstattung von Einsatzkräften von Feuerwehr bis hin zum Technischen Hilfswerk. „Sämtliche Infrastrukturen müssen für die Bewältigung künftiger Extremereignisse sicher gemacht werden“, forderte Gehring.
Die Stadt Essen hat am Mittag ein Bürgertelefon geschaltet. Unter der Rufnummer 123-8888 gibt es aktuelle Infos zur Hochwasserlage.
Die Polizei mahnt zu Vorsicht und Aufmerksamkeit
Die Polizei sprach deutliche Warnungen aus: „Achtung! Zahlreiche Straßen bei uns in den Stadtgebieten, besonders im Essener Süden und im Bereich des Ruhrufers, sind überflutet. Bitte meiden Sie den Straßenverkehr, sofern dies möglich ist. Achten Sie auf die aktuelle Nachrichtenlage.“
Hochgespülte Gullydeckel sind eine Gefahr, so die Polizei: „Fahren Sie keinesfalls durch überflutete Unterführungen. Meiden Sie Kellerräume, aber auch die Ruhrufer.“ Flutwellen könnten lebensgefährlich sein. Wer Menschen in Notlagen entdeckt, sollte umgehend die Feuerwehr oder die Polizei informieren und sich nicht selbst in Gefahr begeben, appellierten die Behörden.
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