Essen-Byfang. Ein Steigerhaus als Zuhause, der Wald als Spielplatz: Zeitzeugen erinnern sich an ihr Leben in der Bergbausiedlung. Jetzt gibt es ein Hörspiel.
Eine Heizung gab es nicht in dem kleinen Steigerhaus, kein Badezimmer und keine Toilette. Aus dem Hahn tropfte es nur. Sie heizten mit Kohlen und für Ulrich Mais gab es statt eines Kinderzimmers einen Schlafplatz. „Es war einfach, aber unheimlich schön“, sagt der 68-Jährige heute, wenn er auf seine Kindheit in der Bergbausiedlung in Byfang blickt. Die ist bereits 1970 abgerissen worden, sein Zuhause spurlos verschwunden. Geblieben sind aber zahlreiche Erinnerungen, die nun dank Zeitzeugen zu einem Hörspiel geworden sind.
Großmutter, Eltern, Onkel und Bruder lebten in dem Bruchsteinhaus, in dem Ulrich Mais am 2. Juni 1953 geboren wurde. Der Großvater fuhr auf der Zeche Victoria ein („er starb bereits 1951 an einer Staublunge“), der Vater arbeitete auf Pörtingssiepen über Tage, während die Kinder zu Räuber und Gendarmen oder Robin Hood wurden. „Der Wald war unser Spielplatz“, sagt Ulrich Mais zu der Lage ihrer Siedlung mit etwa zehn Häusern mitten im Grünen. Heute steht dort lediglich noch der Rest eines Turmes, an dem ein Wanderweg vorbeiführt.
Manchmal hing ein frisch geschlachtetes Schwein draußen
Den Weg vorbei an den Bergmannshäusern nahm Gerhard Strickmann (80) einst jeden Tag zur Schule nach Oberbyfang, sah die Bewohner draußen oder auch mal ein frisch geschlachtetes Schwein. „Mit den Kindern haben wir nicht gespielt“, sagt er zur strikten Trennung Siedlung-Straße. Denn die Siedlung galt als prekär, wer, wie Familie Strickmann unterhalb an der Nierenhofer Straße wohnte, blieb distanziert.
„Ausgesprochen hat das so niemand, aber diese Stimmung war unterschwellig immer da“, beschreibt der 80-Jährige. Fußball spielten sie ausschließlich mit den Kindern von der Nierenhofer Straße, niemals mit denen aus der Siedlung Alter Schacht („als schlechter Spieler wurde ich ohnehin nie aufgestellt, wenn es um etwas ging“). Und entdeckten sie bei ihren Abenteuern im Wald eine alte Schachtklappe, „dann waren mal die da und mal wir“.
Die Großmutter führte einen Kolonialwarenladen
Gerhard Strickmann erinnert sich an den Milchbauern, den Schulweg im Winter („zurück ging es bergab auf dem Tornister, wenn Schnee lag“) und den klugen Schäferhund der älteren Nachbarn. „Er holte Einkäufe bei meiner Großmutter ab.“ Die führte einen Kolonialwarenladen, bot alles vom Hering bis zum Knopf und sogar halbe Zigaretten an.
Die Bewohner aus der Bergbausiedlung galten im Laden allerdings nicht als die besten Kunden. „Viele ließen anschreiben, manche zahlten nicht“, berichtet der Enkel, auch von dem dicken Buch, in dem seine Oma das alles genau notierte. Im Laden gegenüber gab es damals Klümpkes. Und bis heute führt über die ehemalige Siedlung auf dem Berg („den rutschten wir im Schnee nach der Schule auf dem Tornister hinunter“) die Stromtrasse, die der Vater von Gerhard Strickmann mitgebaut hat.
Er wurde Fernmeldemonteur und wechselte später zur Berufsfeuerwehr
Genau unter dieser Trasse lag das Haus der Familie Mais. „War die Luftfeuchtigkeit hoch, hörten wir die Leitungen knistern“, erzählt Ulrich Mais von den Tagen, an denen es etwa nebelig gewesen ist. Er selbst besuchte nicht wie die kahlolischen Kinder die Schule in Oberbyfang, sondern ging zur Deilbachschule, wurde erst Fernmeldemonteur, bevor er 1977 zur Berufsfeuerwehr wechselte.
Die Siedlung aber verließ er bereits mit 17 Jahren. Wie sie damals vom Abriss und damit ihrem drohenden Auszug erfahren haben, das weiß er gar nicht mehr genau. Er hat ihn als Jugendlicher aber miterlebt, denn er fuhr immer wieder mit seinem Moped den Berg hoch zum Steigerhaus, als sie schon längst im Deilbachtal wohnten.
Im Garten wurde Gemüse angebaut, im Stall stand das Schaf
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Motorrad fährt Ulrich Mais bis heute gern. Spaziert er aber mit seiner Lebensgefährtin vorbei an dem Fleck, auf dem das Steigerhaus gestanden hat, dann erzählt er von früher. Von dem Garten, in dem Oma und Mutter Kartoffeln, Bohnen, Erbsen und Runkeln anbauten. Von dem Stall, in dem das Schaf stand, dessen Milch er niemals trank („die war ganz schön fett“). Mit dem Mist düngten sie ihr Gemüse, schlachteten das Tier später. „Unkraut rupfen musste ich zum Glück nie“, sagt der 68-Jährige, der stattdessen seinem Vater half, das Heu zusammenzutragen, nachdem dieser die Wiese mit der Sense gemäht hatte.
Mit den anderen Kindern hat Ulrich Mais damals Pinnchen kloppen oder Verstecken gespielt. Sie haben im Wald ihre Festung mit Mauern und Zelten aus Farnkraut oder Baumbuden gebaut. Er hat zudem viele Stunden im Stall verbracht, wo er sein Wikingerschiff gebastelt hat. Das steht heute noch in seinem Haus in Kupferdreh auf dem Dachboden. Ein Andenken, das er bewahrt wie die vielen Erinnerungen. Diese hat Ulrich Mais zu dem Hörspiel beigetragen. Denn die Idee dazu findet er genial: „Es ist ein schönes Gefühl, nicht vergessen zu werden.“
Unvergessen ist das Tanzlokal Blauer Vogel
Unvergessen bleiben auch die Besuche im Blauen Vogel, in dem es zunächst einen Bierverkauf am Schalter gab, bevor das Lokal erst Gaststätte, dann Tanzschuppen wurde. In den Blauen Vogel kehrte auch Gerhard Strickmann als Lehrling ein: „Da haben wir ordentlich gebechert“, erzählt er schmunzelnd von früher. Später studierte und promovierte der gelernte Starkstrom-Elektriker, da ging es dann um Kerntechnik sowie Reaktorbau und er lebte in Aachen.
Erinnert er sich aber an seine Kindheit in Byfang, dann gehört das Haus seiner Großmutter dazu, so wie das kleine Steigerhaus für Ulrich Mais. Und dann verbindet die beiden Männer heute doch etwas: die alte Heimat. Auch wenn der eine dabei an die Nierenhofer Straße denkt – und der andere an die Bergbausiedlung.
Auftakt des Hörspiel-Projekts am 19. Juni
In Byfang, nicht weit von der Nierenhofer Straße zwischen Kupferdreh und Velbert-Nierenhof, steht noch der Rest des Turmes, an dem das Hörspiel „Der Turm im Wald - Wie mit einer Zeche Heimat entstand und auch wieder verschwand“ erklingen wird. Zum Auftakt am Samstag, 19. Juni, sind alle von 16 bis 17 Uhr an den Kaminsockel der ehemaligen Zeche Victoria eingeladen. Dann werden Zeitzeugen anwesend sein. Zu erreichen ist der Turm über die Straße Dattenberg, von der Nierenhofer Straße aus sind es etwa 500 Meter.
Das Projekt von Peter Gerold, Ralf Kaupenjohann und Markus Emanuel Zajamit soll für das Industriedenkmal ein akustisches Denkmal sein: Hörspiele mit Musik, die an die Bewohner erinnern, die in einer Siedlung lebten, deren Spuren restlos verschwunden sind.
An elf Wochenenden vom 20. Juni bis 4. September sind Besucher weiterhin eingeladen, am Turm zu verweilen und im Innenraum bei den Hörspielen die Vergangenheit lebendig werden zu lassen. Zudem soll es eine Internetseite mit allen Dokumenten geben. Mit diesem Beitrag beteiligen sich die Initiatoren an dem Projekt Heimatruhr des NRW-Heimatministeriums, die Fördersumme beträgt 25.000 Euro.