Essen. Die Zunahme von Bagatell-Anrufen beim Feuerwehr-Notruf 112 sorgt auch in Essen für Frust wegen der Vollkasko-Mentalität. Aber man weiß Abhilfe.
Der Rettungsdienst der Essener Feuerwehr braucht über einen Mangel an Arbeit nicht zu klagen. Im Gegenteil: Die Einsatzzahlen zwischen Karnap und Kettwig sind in den letzten Jahren in die Höhe geschnellt. Während Einsatzkräfte anderswo bereits auf dem Zahnfleisch gingen, spricht der stellvertretende Feuerwehrchef Jörg Wackerhahn für Essen lediglich von einer „hohen Auslastung“.
Lesen Sie auch:
Ein häufiger Grund seien Bagatell-Anrufe. „Die zunehmende Vollkasko-Mentalität der Menschen ärgert die Kollegen maßlos“, sagt Wackerhahn. Um diesem gravierenden Problem Herr zu werden, macht der Essener Vize-Feuerwehr-Chef eine Reihe konstruktiver Vorschläge.
In Essen wird der Notruf 112 mehr als 170.000 Mal im Jahr alarmiert
Wackerhahn ist nicht nur die Lage in Essen bestens vertraut, als Sprecher der Bundesarbeitsgemeinschaft „Feuerwehren im Rettungsdienst“ hat er auch die Entwicklung im gesamten Bundesgebiet bestens im Blick. Das Einsatzaufkommen sei zuletzt jährlich zwischen drei und vier Prozent gestiegen, stellenweise um zehn Prozent – und vielerorts würden die Einsatzzahlen sogar regelrecht explodieren. In Essen sei die Entwicklung ähnlich: Vor zwei Jahren sei der Feuerwehr-Notruf 112 nicht weniger als 170.000 Mal alarmiert worden.
Doch längst nicht immer handele es sich um objektive und vor allem dringende Notfälle. Drei Beispiele für Bagatell-Anrufe sind in diesem Artikel aufgeführt. „Es muss nicht für jede Schnittverletzung sofort der Rettungswagen rausfahren“, betont Wackerhahn. Oft reiche als Sofortmaßnahme vermutlich ein einfacher Verband. Doch viele Menschen scheiterten daran ihn anzulegen. „Die Selbsthilfefähigkeit hat erheblich abgenommen, das ist kein Problem in Essen allein.“ Deshalb fordert Jörg Wackerhahn, „Erste Hilfe“ auf den Stundenplan zu setzen. „Wir brauchen unbedingt eine verpflichtende Erste-Hilfe-Ausbildung in den Schulen.“
Feuerwehr empfiehlt im Notfall die richtige Nummer: Oft ist die „116117“ zuständig
Jenseits von Herzinfarkten und Schlaganfällen gebe es eine Vielzahl sogenannter niedrigschwelliger Hilfe-Ersuchen, für die eigentlich der unter der bundeseinheitlichen Nummer 116117 erreichbare ärztliche Bereitschaftsdienst (medizinischer Notdienst) zuständig sei. Das große Manko von 116117: Anrufer stöhnen über lange Warteschleifen von einer halben Stunde und mehr. Wackerhahn: „Dann rufen die Leute lieber gleich die 112 an.“
Zugleich verweist Wackerhahn auf die ärztlichen Notdienstpraxen in den beiden Krupp-Krankenhäusern Steele und Rüttenscheid sowie im Philippusstift Borbeck (Mo, Di, Do: 19-22 Uhr; Mi/Fr: 13-22 Uhr; Sa, So/Feiertage: 8-22 Uhr), die im Notfall selbst angesteuert werden sollen. Hinzu komme der kinder- und zahnärztliche Notdienst in Essen.
Auch interessant
Bundesweite Beachtung zur Entlastung der Rettungsdienste fänden zwei innovative Projekte in Oldenburg und Bremen: hier mit dem Gemeinde-Notfallsanitäter, dort mit dem „Hanse-Sani“. Ein weiterer Grund für die Zunahme von Notrufen sieht der Essener Feuerwehr-Spitzenbeamte in der Vereinsamung von Menschen: Einsamkeit mache depressiv und krank. „Die Leute brauchen tatsächlich Hilfe, aber der Rettungswagen ist dafür nicht das richtige Mittel.“ Die Pandemie habe die Isolation ohnehin einsamer Menschen weiter verschärft.
„Wir müssen den Rettungsdienst völlig neu denken“: In Bremen hilft der „Hanse-Sani“
„Wir müssen den Rettungsdienst völlig neu denken“, argumentiert Wackerhahn. Für Essen und die Nachbarstädte Mülheim und Oberhausen werde in den nächsten Jahren ein telenotärztlicher Standort eingerichtet. Das heißt: Rettungskräfte schalten beim Einsatz vor Ort per Monitor den Tele-Notarzt in der Leitstelle zu, der ihnen dann konkrete Anweisungen zum weiteren Vorgehen erteilt.
Der stellvertretende Essener Feuerwehr-Chef macht immer wieder deutlich, worum es ihm geht: „Unnötige Fahrten von Rettungsfahrzeugen müssen vermieden werden, damit wir im echten Notfall bei Lebensgefahr rechtzeitig zur Stelle sind.“ Er macht kein Geheimnis daraus, wie sehr die Bagatell-Anrufe die Einsatzkräfte frustrieren. Manchmal gebe es drei, vier Einsätze in einer Schicht, ohne dass ein einziges Mal der Notfallkoffer geöffnet werden müsse. Dann fielen schon mal Sätze wie: „Mir reicht es langsam, auf der Karre zu fahren.“
Einsatzkräfte sollen Leben retten, aber bei Bagatell-Anrufen fühlen sie sich als Taxifahrer missbraucht. Jörg Wackerhahn hat das Problem neulich im Interview mit dem „Feuerwehr-Magazin“ thematisiert, das im Internet prompt viral ging. Für ihn ein Indiz dafür, wie sehr vielen Rettungskräften landauf landab der Schuh drücke. Dass die Bundesregierung passend dazu eine neue Kampagne gestartet hat, sieht er als Bestätigung an. Darin heißt es: „Den Notruf entlasten, kann Leben retten.“