Essen. Täglich schauen wir auch in Essen auf Zahlen, Verlaufskurven, Diagramme – doch die Statistik zeigt nur einen Teil der Wahrheit. Eine Betrachtung

Die Zahl der bestätigten, akuten Corona-Infektionen im Stadtgebiet geht seit etwa einer Woche leicht zurück. Was bedeutet das? Diese Tage und Wochen, in denen viele Menschen mit größtem Interesse auf täglich oder sogar stündliche aktualisierte Daten schauen, auf Verlaufskurven und Balkendiagramme – diese Zeit, sie offenbart die Tücken der Statistik.

Was wissen wir eigentlich?

Das Gesundheitsamt testet Menschen mit einem Abstrich im Rachen, die sich bei der Behörde gemeldet haben oder gemeldet wurden. Die Vermutung liegt nahe: Je mehr Tests an einem Tag durchgeführt werden, desto höher muss zwangsläufig auch die Zahl der ermittelten Corona-Infektionen sein. Das heißt: Je mehr Tests, desto mehr Kranke. Es klingt banal, aber halten wir trotzdem fest: Wir müssen ohnehin davon ausgehen, dass die Zahl der ermittelten Corona-Infektionen längst nicht übereinstimmt mit der Zahl der tatsächlich erkrankten Menschen in Essen.

Statistik-Professor: Dunkelziffer ist um das zehn- bis 20-fache höher

Andreas Behr, Professor für Volkswirtschaftslehre und Statistik an der Uni Duisburg-Essen, erklärt: „Über die Dunkelziffer gibt es nur Vermutungen und Erfahrungen aus China. Es wird vermutet, dass die Zahl der Infizierten um das zehn- bis zwanzigfache über der Zahl der veröffentlichten nachgewiesenen Fällen liegt“.https://interaktiv.waz.de/corona-virus-karte-infektionen-deutschland-weltweit/#regio

Mehr Tests bedeuten mehr ermittelte Krankheiten - selbst diese leicht nachvollziehbare These, die uns klar macht, wie wenig wir eigentlich wissen, ist nicht gesichert. Ein Beispiel: Am Mittwoch, 25. März, nahm die Stadt insgesamt 340 Proben, davon waren 22 positiv (also mit dem Ergebnis: ja, ein Corona-Infekt liegt vor). Aber: sechs Tage vorher, am Donnerstag, 19. März, entnahm die Stadt insgesamt 174 Proben, also nur halb so viele wie am 25. März. Doch das Ergebnis lautete: 23 positive Tests - also sogar einer mehr als am 25. März. Als also relativ viele Proben genommen wurden, waren nur 6,47 Prozent positiv, und an einem Tag mit wenigen Proben 13,22 Prozent.

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Balkendiagramme ohne klare Aussagen

Wenn man sich die Balkendiagramme der Stadt anschaut, die täglich die Zahl der entnommenen Abstriche den neuen, positiven Test-Ergebnissen gegenüberstellen, erkennt man nur eins: Zusammenhänge oder Entwicklungen, aus denen sich Thesen ableiten ließen, sind zumindest zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer interpretierbar. Die Zahl der täglich neu entdeckten Infektionen schwankt im niedrigen, zweistelligen Bereich. Am Montag, 23. März, waren es 14. Einen Tag später 24. Einen Tag später 22. Einen Tag später 45. Zwei Tage später nur noch 20. Die Kurve dieser Zahlen verläuft, wenn man sich den gesamten Monat März anschaut, in niedrigen Wellen. Aussagekraft: null - vor allem, wenn man bedenkt, dass es um zweistellige Zahlen geht in einer Stadt mit knapp 600.000 Einwohnern.

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Unterschiede in den Stadtteilen

Wie hoch die Essener Dunkelziffer von tatsächlich infizierten Menschen ist, kann wie gesagt niemand genau sagen – auch deshalb nicht, weil wir von sehr großen Unterschieden in den Stadtteilen ausgehen müssen. Um mal die Klischees zu bemühen: Wenn eine Seniorin in Bredeney hustet und aus Sorge das Gesundheitsamt anruft, kommt womöglich - und hoffentlich - ein negatives Test-Ergebnis dabei heraus. Wenn dagegen eine vielköpfige Migrantenfamilie aus dem Nordviertel hustend zu Hause bleibt, den Zustand einfach aushält, bis er vorübergeht, dann haben wir womöglich – und hoffentlich nicht - ein halbes Dutzend echter Infektionsfälle nicht in die Statistik mit aufgenommen.

Zahl der Betroffenen ist - relativ gesehen - noch relativ gering

Insgesamt bleibt zum gegenwärtigen Zeitpunkt festzuhalten, dass sich die Zahl der Betroffenen – bei aller Dramatik – in Essen bislang in überschaubaren Grenzen bewegt: Die Statistik meldet aktuell für Freitag, 3. April 279 Erkrankte, also positiv Getestete. Das ist einerseits verhältnismäßig beruhigend und andererseits tückisch: Denn die ganze Kraft, die die Verantwortlichen von Stadt und Gesundheitsbehörden derzeit in Aufklärung und Vorbeugung stecken, wird gelegentlich konterkariert durch Zahlen, die viele Bürger zum Anlass nehmen, die Maßnahmen als überzogen zu empfinden.

Der Haupteingang der Uniklinik.
Der Haupteingang der Uniklinik. © FUNKE Foto Services | Kerstin Kokoska

Oder, anders gesagt: Wir haben mit dem Paradox zu tun, dass die Erfolge der Verantwortlichen – die Kurven bleiben bislang niedrig - ihre Arbeit erschweren, weil die flächendeckende Katastrophe bislang ausgeblieben ist. Gesundheits-Dezernent Peter Renzel schreibt nach einer Begehung der Intensiv-Station des Uniklinikums, wo derzeit 13 schwer kranke Corona-Patienten behandelt werden, sinngemäß: Dort, im Angesicht der Kranken, wird jede Diskussion klein und unbedeutend, wie lange die Einschränkungen noch dauern müssen, weil es doch so viele Infizierte gar nicht seien.

Todes-Raten sind aussagekräftiger

Aussagekräftig sind im internationalen Vergleich die Todes-Raten: Ins Verhältnis gesetzt werden dabei die Zahlen der Infizierten mit den Todesfällen. Darauf weist Andreas Behr hin: „In Italien liegt die Rate derzeit bei 12,07 Prozent, in Spanien bei 9,23% und in Deutschland bei 1,31 Prozent. Hier spielt vermutlich sowohl die bessere Versorgung mit Intensivbetten und Beatmungsgeräten in Deutschland eine Rolle, aber auch die Auswahl der getesteten Personen.“ Grundsätzlich sei ohnehin bedenklich, dass allgemein davon ausgegangen wird, die Toten seien allein am Corona-Virus gestorben. „Dabei sind mehrheitlich ältere Menschen mit massiven Vorerkrankungen betroffen.“

Wir sehen: Die Lage ist schwierig. Wir wissen wenig. Zahlen helfen nur bedingt in einer Situation, die so noch nie gewesen ist und hoffentlich nicht mehr lange andauert.

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