Pierre seit einem Jahr vermisst – so kämpft Familie Pahlke
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Essen/Gladbeck. Vor einem Jahr, am 17. September 2013, wurde der geistig behinderte Pierre Pahlke zum letzten Mal in Essen gesehen. Seitdem ist er spurlos verschwunden. Die verzweifelten Eltern hoffen immer noch, dass er lebt. In der Heimstatt Engelbert in Essen ist sein Zimmer unverändert eingerichtet.
Das Unglaubliche passiert genau vor einem Jahr: Ein Mensch verschwindet spurlos von der Bildfläche. Als sich die Bewohner der „Heimstatt Engelbert“ in Essen-Frillendorf an jenem 17. September, einem Dienstag, zum Abendbrot versammeln, bleibt ein einziger Stuhl am großen Tisch frei: der des 21 Jahre alten Pierre Pahlke. Eines jungen Mannes, der seit seiner Geburt geistig behindert und deshalb wehrlos ist wie ein kleines Kind. Zum letzten Mal wird er kurz nach 19.15 Uhr beim Supermarkt „Penny“ auf der Ernestinenstraße gesehen. Danach verliert sich jede Spur.
Der „Fall Pierre“ zählt zu den rätselhaftesten und beklemmendsten Kriminalfällen der letzten Jahre. Es ist ein Fall, der besonders den in Gladbeck lebenden Eltern und Großeltern nahegeht. Je länger Pierre verschwunden ist, desto häufiger lässt Manuela Pahlke, seine Stiefmutter, die schmerzhafte Vorstellung an sich heran, dass der geliebte Junge das Opfer eines Verbrechens geworden sein könnte. „Ja, wir haben Angst, dass er nicht mehr leben könnte“, sagt die Mutter, „aber wir hoffen, dass er sich vielleicht bei jemandem aufhält, der es gut mit ihm meint.“
Vermisstenfall Natascha Kampusch gibt Pierres Eltern Hoffnung
Es ist der spektakuläre Vermisstenfall Natascha Kampusch, aus dem die Pahlkes letzte Hoffnung schöpfen. Die Hoffnung, dass sie jemanden, der wie vom Erdboden verschluckt ist, eines fernen Tages doch wieder lebendig in die Arme schließen können.
Es ist diese quälende, kaum auszuhaltende Ungewissheit, die der Familie, insbesondere der Großmutter, so sehr zusetzt. Keinen Abschluss zu finden, nicht im Guten und auch nicht im Bösen, frisst die Angehörigen auf. Eine psychische Qual, die sie auch körperlich an den Rand der Erschöpfung stürzt. „Wir stehen morgens mit dem Gedanken an Pierre auf und gehen damit abends ins Bett“, sagt Manuela Pahlke.
Vermisstenfall Pierre Pahlke
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Die Polizei in Essen hat bei der Suche nach Pierre längst jeden Stein im Umfeld der „Heimstatt Engelbert“, einem Wohnheim für Behinderte, umgedreht. Hundertschaften haben Wälder und Parks durchstreift, Taucher sind ins Wasser und Hubschrauber mit Wärmebildkameras an den Himmel gegangen. Zwischenzeitlich wird sogar ein Verdächtiger verhaftet, aber mangels Beweises wieder freigelassen. Dann, Ende November, führen Personenspürhunde mit feinsten Nasen die Fahnder ins Rotlichtviertel von Amsterdam, wo sich auch die letzte vage Spur im Nichts verliert.
Kommissar: „Die Akte Pierre Pahlke wird nicht geschlossen"
Das vorerst letzte Fünkchen Hoffnung ist im Mai das Aktenzeichen XY-Spezial „Wo ist mein Kind?“:
Zwar gehen über 80 Hinweise ein, doch selbst die bundesweite Fernsehfahndung bringt die Kripo keinen Schritt weiter. Obwohl neue Hinweise schon seit Monaten ausgeblieben sind, sagt der zuständige Kriminalhauptkommissar Ralf Menkhorst mit trotzigem Unterton: „Die Akte Pierre Pahlke wird nicht geschlossen.“
So tun die Pahlkes, der Vater, die Stiefmutter, der Bruder und die Großmutter, das, was alle Angehörigen in ihrer Verzweiflung tun würden: Sie suchen selbst. „Wir können doch die Hände nicht einfach in den Schoß legen“, sagt Manuela Pahlke. Erst im Sommer haben sie im Umfeld der Heimstatt Engelbert abermals neue Plakate („Wir suchen Pierre weiter“) geklebt: mit einem Foto von Pierre, mit ihrer Handynummer 01575/4821625 und dem Hinweis auf die Belohnung: 15 000 Euro. Sehr viel Geld, das sie aus privaten Ersparnissen zusammengelegt haben. Sie appellieren an mögliche Zeugen, anzurufen oder die Polizei einzuschalten. „Sie könnten ja auch einen anonymen Brief an die Zeitung schicken“, sagt die Mutter.
Wenn es einen Täter gibt, soll dieser nicht zur Ruhe kommen
Ihre Fahndungsplakate wollen sie zugleich als eindringliche Mahnung verstanden wissen. „Sollte Pierre etwas zugestoßen sein, dann soll derjenige, der es getan hat, nicht zur Ruhe kommen. Nein, das gönnen wir ihm nicht.“ Am Anfang, berichten die Angehörigen, hätten sie nach dem schicksalhaften 17. September noch in Stunden gerechnet. „Dann in Tagen, Wochen und Monaten, jetzt müssen wir in Jahren rechnen. Das ist schon hart.“
Fall Pierre bei Aktenzeichen XY
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Ob im Trinkgut-Getränkemarkt, in dem der sympathische und lebensfrohe Blondschopf mehrmals am Tag seine geliebten Energiedrinks kaufte, oder im Gladbecker Blumengeschäft, in dem Manuela Pahlke arbeitet: Überall ist die Anteilnahme groß und ständig werfen mitleidende Kunden die bange Frage auf: Wo ist Pierre? Den Sonntag vor seinem Verschwinden hat Pierre noch bei seiner Familie in Gladbeck verbracht. Ein Gedanke, der in einen schmerzenden Selbstvorwurf mündet. Manuela Pahlke sagt: „Hätten wir ihn noch länger bei uns behalten, dann wäre er vielleicht nicht verschwunden.“
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