Ruhrgebiet. . Auch in Essen demonstrieren Jesiden aus dem ganzen Ruhrgebiet gegen die Verfolgung ihrer Religionsgruppe im Irak. Anders als in Herford, wo Salafisten und Jesiden aufeinander prallten, bleibt der Protest friedlich. Hoch emotional ist er trotzdem.
Ghian in Essen telefoniert, sie telefoniert den ganzen Tag, aber am anderen Ende nimmt niemand mehr ab. „Meine Tanten, mein Onkel, meine Kusinen“, Jesiden wie Ghian, sie sind fort, vielleicht in den irakischen Bergen, vielleicht tot, die Studentin weiß es nicht, sie weint. „Es belastet einen so.“ Ihre Stimme bebt, um sie herum an Essens Hauptbahnhof schreien die Frauen, aus Gelsenkirchen, aus Herne, eine ruft sich in Rage, die Tränen fließen, sie zeigen Fotos von Kinderleichen im Dreck. Es ist beklemmend: Hier demonstrieren Jesiden, die im Ruhrgebiet wohnen, sie rufen um Hilfe für „unsere Kinder“, im Irak von der Terrorgruppe ISIS verfolgt.
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Herford hat den Konflikt, die Angst nach Nordrhein-Westfalen geholt, wo die Jesiden sich bislang nicht sehr beachtet sorgten: Herford, wo sie auch nur demonstrieren wollten. Als ein 31-Jähriger am Nachmittag Plakate dazu aufhängte, kam es vor seiner Imbissbude zum Zusammenprall. Bewaffnet mit Flaschen und Messern gingen sechs „Männer muslimischen Glaubens“, wie die Kreispolizei sagt – offenbar Salafisten – auf fünf Jesiden los, der Gastronom und ein 16-jähriger Jeside wurden verletzt. Aus Protest versammelten sich später Hunderte Jesiden in der Herforder Innenstadt, skandierten „Wir sind eure Freunde, Salafisten eure Feinde!“ Die Polizei berichtet von weiteren Körperverletzungen und Sachbeschädigungen, an denen „Anhänger der verschiedenen Glaubensrichtungen beteiligt“ gewesen seien. Einsatzhundertschaften aus Dortmund und Bochum mussten zur Hilfe eilen.
„Eine traurige Sache“, sagt am Tag danach Selahattin Tagay, Sprecher der Jesidischen Gemeinde in Wesel. „So etwas wollen wir nicht.“ Die Polizei müsse „diese Fanatiker“ unter Kontrolle bekommen, „sonst sind in den Großstädten weitere Übergriffe zu erwarten“. Es seien alle gefährdet, so Tagay, Christen, Juden, Jesiden und auch Muslime. Von der muslimischen Gemeinde erwarte er deshalb ein deutliches Signal: „Dass sie sich mit uns solidarisch zeigen.“
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Auch sein Namensvetter Sefik Tagay aus Essen sieht besorgt auf die Entwicklungen: „Die Menschen sind extrem emotionalisiert“, sagt der Psychologe, „besonders die jungen. Sie haben fast alle Verwandte verloren, und jeden Tag zeigt man ihnen die grausamen Bilder.“ Hinzu komme: „Es gibt auch Provokateure.“ Der Vorsitzende der „Gesellschaft Ezidischer AkademikerInnen“ organisierte gerade eine bundesweite Demonstration, geplant für Samstag in Bielefeld, als die Nachricht aus Herford kam. Sonst, sagt Tagay, „kann man in der Diaspora wenig machen“.
„Ein Verbrechen gegen die Menschheit“
Die Jesiden im Ruhrgebiet, 400 Familien sollen es in Essen sein, 300 in Wesel, 30 in Bochum, haben aber das Gefühl, sie müssten etwas tun. „Im Irak passieren Dinge, dafür gibt es keine Sprache“, sagt Sefik Tagay und findet doch Worte: „Ein Verbrechen gegen die Menschheit.“ Es werde alles „massakriert und ausgerottet, das nicht nach der Scharia lebt“. Was die deutschen Jesiden so hilflos macht: „Die Weltgemeinschaft tut so gut wir gar nichts. Warum schaut die Welt weg?“
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Das fragen die Demonstranten am Donnerstag in Essen gar nicht mehr, 300 auch sie, von der Polizei geschützt. Sie flehen: um Hilfe, um militärischen Schutz, „unsere Kinder sind gestorben“, erklärt Khues aus Herne ihre Plakate, „wir sind vom Aussterben bedroht“. Die „Gemeinschaft der Ezidischen Gemeinden in Deutschland“ fordert von Vereinten Nationen und Bundesregierung seit Tagen, „militärisch das Schlimmste zu verhindern“: Man stehe „vor einem Völkermord, der in seinen Ausmaßen nur vergleichbar ist mit den Massakern in Ruanda und Dafur“.
Dabei geht es den Jesiden schon Jahre nicht gut in ihrer Heimat, viele flohen vor der Verfolgung, auch ins Ruhrgebiet. Vor zwei Jahren erreichte Anoar Derbo aus dem syrischen Bürgerkrieg das rettende Mülheim, überlebte um ein Haar die Fahrt auf einem Flüchtlingsboot vor Italien. Auf der Flucht verlor Derbos schwangere Frau ihr Kind, daheim blieb die blinde Mutter zurück. Eine Schwester floh in den Irak: „Dort“, sagt Derbo, „geht es ihr nicht besser.“
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Mourad Abdo Khedir hat eine Ahnung, wie es ihr ergeht: Als er das letzte Mal mit seinen Verwandten dort telefonierte, griff ISIS gerade das Dorf an. Nicht alle aus der Familie haben überlebt, einige sollen in den Bergen sein. Ob das stimmt – Abdo Khedir weiß es nicht. Der Jeside weiß nur, was er selbst gesehen hat auf der Flucht: „Wer den Islamisten in die Hände fällt, wird getötet.“ Nach vier Jahren im Mülheimer Übergangsheim zieht er mit seinen Kindern in diesen Tagen endlich in eigene Wohnung, nur: „Aber man kann sich über gar nichts richtig freuen.“
Und auf nichts konzentrieren, sagt Ghian in Essen: „Wir werden einfach ausgelöscht, dabei haben wir selbst nie Krieg geführt!“ Und schlimmer noch: Sind sie nicht alle gläubig?“ Glauben sie nicht alle an Gott? „ISIS schreit ,Gott ist groß’, und dann bringen sie uns um.“ Und wieder weinen die Frauen. Um die Verwandten in den irakischen Bergen: „Wenn die Terroristen sie nicht kriegen, sterben sie an Hunger und Durst.“