Essen.. Als Willi Stötzel vor 88 Jahren auf die Welt kam, sprachen seine Eltern, Onkels und Nachbarn mit ihm „Platt“. Hochdeutsch lernte er erst in der Schule. Das „Byfänger Platt“ wird kaum noch gesprochen. Wie gut, dass er schon 2004 einen Band mit plattdeutschen „Dönekes“ herausgegeben hat.

Willi Stötzel öffnet die Tür zu seinem schmucken Haus in Hanglage und begrüßt die Besucher in kernigem Plattdeutsch. „Godden Dag“, sagt der 88 Jahre alte Byfänger „Poahlbürger“ und lächelt. Er ist einer der wenigen und womöglich bald letzten Essener, für die „Platt“ kein exotisches Kauderwelsch, sondern Muttersprache ist. Ein uriges Idiom, das im sprachbabylonischen Ruhrgebiet genauso vom Aussterben bedroht ist wie die Sprachen in gottverlassenen Indianerdörfern am Amazonas.

Willi Stötzel ahnt schon seit Längerem, dass es mit seinem „Byfänger Platt“, einer Abwandlung des Essener Platt, eines nicht allzu fernen Tages ein böses Ende nehmen könnte. Um ihre Muttersprache vor dem endgültigen Kollaps zu bewahren, griffen er und ein Paar Mitstreiter trotzig zu Papier, Bleistift und Computer. „Vor zehn Jahren haben wir einfach ‘mal die alten Anekdoten aufgeschrieben, die sich die Menschen in der Nachbarschaft seit jeher erzählt haben.“ Herausgekommen ist ein schmaler Band, Auflage 2000 Exemplare, der in Windeseile vergriffen war: eine amüsante Sammlung von Gedichten und Dönekes, abgerundet mit dem pfiffigen Wörterbuch „Byfänger Platt - Hochdeutsch“.

"Blagen" und "Köttelbecke" bleiben erhalten

„Ek häw Platt gelehrt bi us te Huse, van Vader un Moder, vanne Nobers un de Lüh in’t Dorp“, sagt Willi Stötzel. So ist es üblich damals in den zwanziger Jahren im hügeligen Essener Südosten, wo der rußschwarze Kohlenpott fern und das Bergische Land nahe ist. Wo die Menschen uralte bäuerliche Traditionen pflegen, sich auf ihrem Kotten eine Kuh und ein Schwein, Schafe und Hühner halten, und im reichen Garten Obst und Gemüse satt ernten. Ein gutes und vor allem sicheres Einkommen verheißt obendrein der nächste Pütt. „Mein Vater, seine Brüder, sie alle waren Bergleute.“ So legt auch Willi Stötzel nach der Volksschule auf dem Bergwerk an: auf Zeche Heinrich in Burgaltendorf - von 1941 bis zur Stilllegung 1968 ist er dort Kaufmännischer Angestellter. „Unter Tage war die Arbeit hart und gefährlich, manchmal tödlich, mein Onkel kam mit 25 durch einen Unfall in der Grube ums Leben.“

Vom guten alten Alfred Krupp, dem weltläufigen Stahlmagnaten, weiß man, dass er mit seinen einheimischen Schmieden stets auf Plattdeutsch zu parlieren pflegte. Aber in den zwanziger und dreißiger Jahren ist schon eine gewaltige Einwanderer-Welle über das boomende Land zwischen Ruhr und Emscher gespült. Mit Menschen, die schlesische und ostpreußische, bayerische und steirische Mundart mitbringen, die Polnisch und Slawisch, Holländisch und Italienisch sprechen. Etliche „platte’“ Fragmente konnten sich in den ruhrpöttischen „Regiolekt“ retten, etwa Wörter wie „Blagen“ und „Buxe“, „Kuselköpper“ und „Köttelbecke“. „Die Sprache auf der Zeche war später dann auch Hochdeutsch“, sagt Stötzel.

Kein Platt auf Essener Stundenplänen

Schon nördlich der Lippe, im traditionsfesteren, bäuerlichen Münsterland, hat sich das Plattdeutsche viel besser halten können. Und je platter von da an das Land, desto höher die Zahl plattdeutscher Muttersprachler. Ganz oben auf der deutschen Landkarte, an der Waterkant, erlebt das „Niederdeutsche“ gar eine Renaissance. In Hamburger Schulen steht es schon auf dem Stundenplan und der Norddeutsche Rundfunk sendet regelmäßig Formate wie „Norichten op Platt“.

Sechs Millionen Deutsche sprechen Platt

Plattdeutsch (oder Niederdeutsch) wird in Deutschland von etwa sechs Millionen Menschen gesprochen, nur zwei Millionen sind Muttersprachler.Niederdeutsch war einst die Sprache der Hanse und reichte von den Niederlanden bis ins Baltikum. 2013 hat das EU-Parlament festgestellt, dass 120 europäische Sprachen vom Aussterben bedroht sind, darunter auch Plattdeutsch.

Wer in Essen hingegen die Jahrhunderte lang gesprochene Sprache der Vorväter lernen oder wenigstens nur hören möchte, hat’s nicht einfach. „Bei uns steht Plattdeutsch nicht auf dem Plan“, heißt es etwa bei der Volkshochschule am Burgplatz. Willi Stötzel blättert in seinem Platt-Heftchen und sagt: „Genau deshalb haben wir’s gemacht: damit das Plattdeutsche gepflegt und hochgehalten wird.“

Charmante Beleidigungen

Doch je älter der Byfänger Poahlbürger wird, Mitte August wird er das 89. Lebensjahr vollenden, desto überschaubarer ist die Zahl derer, mit denen er noch in seiner Muttersprache plaudern und „kürn“ kann. „Wenn wir uns früher sonntags zum Frühschoppen trafen, sprachen wir nur Platt.“ Und heute? Heute gibt’s in Willi Stötzels unmittelbarer Nachbarschaft höchstens noch eine Handvoll Muttersprachler: „den Aloys zum Beispiel und den Erich“. Und wie steht’s mit seinem Sohn? „Nun ja“, erwidert Willi Stötzel, „er versteht es gut, aber wir unterhalten uns auf Hochdeutsch.“ Ein Riss auch hier.

So manchem mag Plattdeutsch, diese Umgangssprache mit dem rollenden „R“ und lauter Doppel-T’s und Doppel-P’s als derb, grob, hart, ja als rückständig erscheinen. „Unsinn“, korrigiert Willi Stötzel. „Plattdeutsch ist eine sehr gemütliche und warme Sprache.“ Selbst bei Beleidigungen bewahre sie ihren Charme. „’Ek trat di inne Mäse’ klingt doch viel netter als ‘Ich trete dir in den Arsch’“.