Essen. Über 200 Strafanzeigen schrieben Polizisten in Essen im vergangenen Jahr, nachdem sie selbst zu Opfern wurden. Respektlose Umgangsformen wie Pöbeleien, Beleidigungen oder Bedrohungen sind in der Bilanz noch nicht einmal berücksichtigt. Die Gewerkschaft sieht „vielfach höheres Aggressionspotenzial“. Die CDU-Fraktion im Rat der Stadt Essen fordert Konsequenzen.

Die Anlässe für viele der Einsätze sind oft nichtig, die Folgen für die Beamten aber nicht selten gravierend: Tag für Tag wird auf Essens Straßen eine Polizistin oder ein Polizist selbst zum Opfer. Der einstige Freund und Helfer mutiert in den Augen einer steigenden Zahl von gewaltbereiten und aggressiven Zeitgenossen zunehmend zum Feind in Uniform, wie zuletzt am Sonntag: Ein betrunkener 50-Jähriger bespuckt Polizisten, die Nachbarn wegen einer fortgesetzten Ruhestörung an der Wörthstraße im Südostviertel gerufen haben. Er tritt auf die Männer ein und beschimpft sie als „dumme Schweine“.

193 Strafanzeigen schrieben Beamte im Jahr 2011 nach tätlichen Angriffen bei Einsätzen. 214 waren es im vergangenen Jahr, kaum weniger werden’s am Ende des laufenden sein, schätzt Polizeisprecherin Tanja Hagelüken. Respektlose Umgangsformen wie Pöbeleien, Beleidigungen, Bedrohungen und Spuckattacken sind in dieser Bilanz noch nicht einmal berücksichtigt. Und: Nach Einschätzung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) stellen kaum mehr als die Hälfte aller Ordnungshüter einen Strafantrag, nachdem sie im Dienst körperlich angegangen worden sind. Weshalb die Behörde nach eigenen Angaben auch „keine verlässlichen Erkenntnisse“ darüber hat, wie viele ihrer Beamten bei Einsätzen vorsätzlich verletzt oder am Ende sogar dienstunfähig wurden.

Ein versuchtes Tötungsdelikt

„Die Kollegen müssen das melden“, sagt Hagelüken. Tun sie es nicht, etwa weil sie dienstliche Nachteile befürchten oder den Vorgang für nicht so belastend halten, verzerre die Statistik nur das wirkliche Bild. Zumindest ein versuchtes Tötungsdelikt war darunter: Am 10. Mai schlug der Schweizer Hooligan Adrian Z. beim Spiel Rot-Weiss Essen gegen den Wuppertaler SV einem Essener Polizisten mit einer Bierflasche auf den Kopf. Die Folgen: eine Platzwunde, eine vierwöchige Dienstunfähigkeit und eine Bewährungsstrafe für den Schläger. Es war ein Bankangestellter aus Bern.

„Eine konsequentere Anwendung der Gesetze“ nach Gewaltdelikten gegen Beamte fordert Heiko Müller, GdP-Vorsitzender in Essen: „Widerstandshandlungen gehen oft in den Strafverfahren unter.“

Immerhin drei Viertel aller Polizisten wurden schon einmal im Dienst angegriffen. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie, die das Innenministerium jetzt öffentlich machte. Diese Größenordnung, in der „eine große Brisanz“ stecke, sei auch für Essen zutreffend, meint Müller, der selbst schon angegangen worden ist. Im Streifenwagen sei er von einem Festgenommenen bespuckt worden. „Erniedrigt und schäbig“ habe er sich gefühlt, sich abends in die Badewanne gelegt, um sein Unwohlsein abzuwaschen, und seiner Frau nicht erlaubt, ihn zu küssen, erinnert sich Müller.

Gewaltbereitschaft wächst

Die Hemmschwelle, auf Polizisten loszugehen, sei gesunken. Die Kollegen, sagt der Gewerkschafter, werden sogar mit Messern bedroht. Und selbst Frauen in Uniform seien vor Übergriffen nicht gefeit. Erst jüngst sei einer Beamtin ins Gesicht geschlagen worden. „Diese Entwicklung erfüllt uns mit Sorge“, sagt Müller: „Es gibt ein vielfach höheres Aggressionspotenzial.“ Die Zeiten seien vielerorts längst vorbei, in denen die Polizei „bei einer Schlägerei in die Kneipe reinging und dann war Ruhe“.

Essens CDU-Fraktion fordert bereits konsequentes Handeln zum Schutz der Polizeibeamtinnen und -beamten. „Der Alltag unserer Polizisten ist offenbar weitaus gefährlicher, als es der Innenminister bisher wahr haben wollte“, sagt Fabian Schrumpf, ordnungspolitischer Sprecher der Christdemokraten im Rat der Stadt: „Für Polizisten, die Opfer von Gewalt werden, müssen Hilfsangebote geschaffen und ausgebaut werden.“ Schrumpf kündigte an, sich die Studie „Gewalt gegen Polizeibeamtinnen und Polizeibeamte“ und deren „erschreckendes Ergebnis“ in der nächsten Sitzung des Kreispolizeibeirates vorstellen zu lassen. „Wir werden überlegen, wie wir in Essen damit umgehen.“

Vermeintliches Raubopfer schlug auf Beamten ein

Nach einem angeblichen Überfall eines räuberischen Quartetts im Hauptbahnhof ging das vermeintliche Opfer am Montag auf einen Bundespolizisten los, der dem 50-Jährigen helfen wollte. Auf der Wache schlug der Betrunkene auf den Beamten ein, als der seine Wunden versorgen wollte. Der Polizist erlitt Verletzungen an den Unterarmen. Gegen den Mann wird jetzt wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte ermittelt.