Essen/Gelsenkirchen. Fast 40.000 Passagiere steigen täglich in die Straßenbahn mit der Nummer 107 - die wenigsten fahren die gesamte Strecke der Linie ab. Wir haben's gemacht: Unterwegs mit der Kulturlinie - von Gelsenkirchen bis in den Essener Süden, vorbei an Kohle und Kunst. Eine Reise durchs Revier in Bildern.

Frankenstraße: Jetzt sind es nur noch vier. Die meisten Fahrgäste haben die Straßenbahn schon viele Haltestellen vorher verlassen. Es hat schon beinahe etwas von Innehalten, wie die fast leere 107 durch ruhige Alleen und an Villen vorbei in Richtung Ziel gleitet. Kein Gemurmel, kein Gedränge mehr in den Waggons.

So als würde die Tram nach U-Bahn-Finsternis, Rush-Hour und Stadt-Trubel noch einmal Luft holen, bevor sie an der Endstation Bredeney dreht und wieder in den Kreislauf auf Schienen startet.

Museen, Opernhäuser, Kneipenviertel

Die 107: 36 Haltestellen passiert sie auf ihrem Weg vom Hauptbahnhof in Gelsenkirchen bis nach Essen-Bredeney. 37.770 Fahrgäste steigen durchschnittlich jeden Tag ein. Die meisten von ihnen fahren nur ein paar Stationen mit der Bahn, wollen schnell von A nach B, von Termin zu Termin.

Touristen kommen mit der 107 zur Zeche Zollverein, zum Museum Folkwang, zur Villa Hügel: Zwei Opernhäuser, zwei große Museen, die Philharmonie und Dutzende weitere obligatorische Sehenswürdigkeiten einer Reise durchs Revier liegen an der Schiene der "Kulturlinie".

Indes: Die wenigsten Passagiere werden wohl je die komplette Strecke abfahren. Wir haben es gemacht - und viel entdeckt auf dem Weg, der völlig verschiedene Facetten eines Ballungsraums offenbart, wie unsere Bilderstrecke zeigt: 17 Kilometer vorbei an Industriebrache, die zugleich Weltkulturerbe ist. Vorbei an Museen, Opernhäusern, Kneipenvierteln. An Wäldern entlang, zwischen Wohnblocks hindurch, von dort unter die Erde und wieder hinauf.

Weniger Rauch für Essens Luft

Die alte 107 auf der Gerlingstraße, aufgenommen 1992.
Die alte 107 auf der Gerlingstraße, aufgenommen 1992. © EVAG

Es ist auch eine Fahrt durch die Geschichte. Eine Fahrt vorbei an Orten, die schon da waren, als die Zechen noch keine Touristen anzogen, sondern vornehmlich Ruß ausspuckten. Damals war eine Dampfstraßenbahn geplant, die die alten Pferdebahnen ablösen sollte: 1889 sollte die mit Dampf betriebene Tram von Essen über Altenessen nach Borbeck und Rüttenscheid fahren; der Berliner Bahnmogul Herrmann Bachstein hatte schon die Konzession dafür erhalten.

Doch dann entschied man sich für die neueste Technik: Eine elektrische Bahn, die keinen Rauch in die Essener Luft pumpen sollte, die ja ohnehin dabei war, allmählich zu verrußen. 1893 fuhr die erste elektrische Straßenbahn durch Essen, 1898 wurde dann die erste Strecke von Essen nach Gelsenkirchen über die Kraspottshöhe und durch Rotthausen eröffnet - es ist die Vorläuferlinie der heutigen 107, die neun Jahre nach Inbetriebnahme die Liniennummer 7 bekam.

In einem zunehmend industrialisierten Essen bedeutete die Straßenbahn eine bis dahin ungeahnte Mobilität - bis der Krieg kam.

90 Prozent der Wagen wurden zerstört 

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Nach Fliegerangriffen im Oktober 1944 fuhr die Bahn nur noch selten, und weil es kurz nach dem Krieg kaum genug intakte Wagen gab, wurde die Linie vorübergehend ganz eingestellt: Über 90 Prozent der Wagen und Oberleitungen waren im Krieg zerstört worden.

Stück für Stück bauten die Essener die Strecken unter britischer Besatzung wieder auf, bis Ende der 40er Jahre fuhr auch die 7 wieder nahezu regulär.

Unter die Erde ging die Bahn 1978, als Tunnel unter die Stadt getrieben wurden und in Essen das U-Bahn-Zeitalter anbrach. Zwei Jahre später bekam die Bahn ihren heutigen Namen: 107.

Keine Bahn wie jede andere

Doch die Linie, wie wir sie heute kennen, gibt es erst seit 1998: Da wurde die 107 mit den Linien 17 und 27 zusammengeführt, die ab Abzweig Katernberg am damaligen Flugplatz Rotthausen (heute Trabrennbahn) vorbei nach Gelsenkirchen fuhren.

Nun wäre die 107 eine Straßenbahn wie jede andere auch - wenn sie nicht zufällig an Dutzenden kulturellen und architektonischen Sehenswürdigkeiten des Reviers vorbeifahren würde, die die Geschichte zweier Städte vom Mittelalter über die Bergbau-Blüte bis heute spiegelt.

Auf den Namen Kulturlinie kam übrigens 2005 WAZ-Redakteur Michael Kohlstadt. Besonders vor und während Ruhr 2010 warb die Verkehrsgesellschaft EVAG mit der Linie - und setzte im Kulturhauptstadtjahr vornehmlich moderne Niederflurfahrzeuge ein, die an den Eingänge keine Stufen haben, und so Rollstuhlfahrern oder Menschen mit Kinderwagen den Einstieg erleichtern.

Dass das jetzt nicht mehr so ist, wird bei vielen der Kulturinstitutionen kritisch beäugt: "Nach 2010 kamen wieder die alten Bahnen", sagt etwa Nassrah-Alexia Denif vom Tanzzentrum Pact. Rollstuhlfahrer etwa würden jetzt nur noch schlecht mit der Bahn zu den Kulturstätten gelangen.

Kulturlinie 108?

So wird sie aussehen, die neue 107: Ab Herbst 2014 kommen die modernen Bahnen.
So wird sie aussehen, die neue 107: Ab Herbst 2014 kommen die modernen Bahnen.

In der Tat hatte die EVAG 2010 jede zweite Bahn mit Niederflurfahrzeugen ausgerüstet, sagt EVAG-Sprecher Nils Hoffmann - eben wegen des Kulturhauptstadtjahres; allerdings nur auf dem nördlichen Teil der Strecke. "Im Süden brauchen wir die Hochflurfahrzeuge wegen der erhöhten Bahnsteige an den U-Bahn-Stationen". Aber man wolle künftig mehr Niederflurfahrzeuge auf die Schienen schicken.

"Vermutlich im Herbst 2014 bekommen wir 27 neue Wagen ohne Treppenstufen", so Hoffmann. Die modernen Fahrzeuge fahren dann immer die nördliche Strecke vom Essener Hauptbahnhof bis Gelsenkirchen. Im Süden fahren weiter die alten Bahnen - als neue Linie 108, die aber eher so etwas wie eine Schwesternbahn ist: Kulturlinie 107b quasi...