Essen. . Seit 50 Jahren zahlen die Städte die Wohn- und Arbeitskosten für Menschen mit Behinderungen. Das ist ein historischer Systemfehler, sagen die Oberhäupter von 27 Städten und Kreisen in NRW. Das Bündnis „Raus aus den Schulden“ will, dass die Bundesregierung einspringt.

Oberbürgermeister Reinhard Paß und Kämmerer Lars-Martin Klieve machen sich für eine Entlastung der Stadt bei den Sozialkosten stark. Im Bündnis „Raus aus den Schulden“, einem Zusammenschluss von 27 Städten und Kreisen in NRW, fordern sie, dass allein Essen nicht mehr länger über 100 Millionen Euro jährlich „Eingliederungshilfe“ für Menschen mit Behinderungen bezahlen muss. Diesen Posten soll der Bund übernehmen, heißt es.

Die „Eingliederungshilfe“ wird geregelt durch ein Sozialgesetz von 1963, damals beschlossen in Bonn, seitdem bezahlt von den Städten. „Es handelt sich um staatliche Fürsorge, bei deren Finanzierung die Städte alleingelassen werden“, heißt es beim Bündnis „Raus aus den Schulden“. „Die steigenden Sozialkosten machen alle Bemühungen der Städte, ihre Ausgaben zurückzufahren, zunichte.“

2,4 Milliarden Euro Schulden

Essens Schuldenstand liegt nach Angaben von Kämmerer Klieve derzeit bei rund 2,4 Milliarden Euro Kassenkrediten — davon werden die täglich notwendigen Ausgaben der Stadt bezahlt. Hinzu kommen 1,1 Milliarden Euro Kredite für Investitionen. „Die“, betont Klieve, „sind aber nicht das Problem.“

„Eingliederungshilfe“ – darunter werden alle Maßnahmen verstanden, die Behinderten ein Leben in Würde und größtmöglicher Selbstbestimmung ermöglichen. In Essen erhalten rund 3300 Menschen Wohnhilfe. Für rund 2000 Menschen wird die Beschäftigung in einer Werkstatt für behinderte Menschen finanziert. Insgesamte Kosten im letzten Jahr: Knapp 130 Millionen Euro.

700.000 Menschen mit Behinderungen in Deutschland

Die Zahl der Menschen mit Behinderungen hat sich seit dem Beginn der gültigen Sozialgesetzgebung bundesweit verzehnfacht. Vor 50 Jahren gab es rund 70.000, heute sind es mehr als 700.000. Die niedrige Zahl in den Sechziger Jahren hat mit den Morden der Nazis zu tun; ihre erhebliche Steigerung bis heute auch mit einem deutlich verbesserten Standard in der Medizin.

Und die nächste Kostenwelle kommt womöglich schon: Wenn Inklusion an Schulen zum Normalfall wird und Schüler mit Behinderungen auch an Regelschulen Unterricht erhalten, kostet das die Stadt Essen in den nächsten fünf Jahren knapp 40 Millionen Euro. So teuer wären Umbauten, hat ein Gutachten ergeben. Das entsprechende Gesetz muss in Düsseldorf noch beschlossen werden. Wieder droht, dass die Kommune zahlt. Das wäre ein Verstoß gegen das verfassungsmäßig verbriefte Konnexitätsprinzip, das besagt: Wer die Musik bestellt, bezahlt sie auch.

„Die Stadt sollte das Land verklagen“, fordern längst Städtetag-Vertreter, auch der Essener Landespolitiker Ralf Witzel (FDP) macht in der Sache mobil. Während Kämmerer Klieve eine Klage „nicht abwegig“ findet, hält sich der Oberbürgermeister noch zurück: „Eine politische Lösung ist mir lieber“, sagt Reinhard Paß.